TRUTZBURGEN AUS LEHM – CHINAS TULOU

Es ist eine Katastrophe, dass China so extrem unter der „Covid-19“-Epidemie zu leiden hat und durch die Abschottungspolitik die Schönheiten des Landes völlig in Vergessenheit geraten. Seit über dreissig Jahren fühle ich mich eng mit China verbunden. Es gibt kein Fernreiseziel auf der Welt, in dem ich mich länger und häufiger aufgehalten habe und kein Land, das ich besser kenne, als das „Reich der Mitte“. Das Land bietet eine unglaubliche Fülle an Kunst- und Kultur-Highlights, an weltweit einzigartigen archäologischen Stätten, spektakulären Naturschauspielen und avantgardistisch-modernen Bauwerken. Doch heute nehme ich euch mit auf eine Reise jenseits der bekannten Ziele wie der Großen Mauer, der Terracotta-Armee von Xian und dem Drei-Schluchten-Staudamm. Folgt mir zu einer architektonischen wie kulturgeschichtlichen Besonderheit, die für mich zum Besten gehört, was China dem neugierigen Besucher zu offenbaren hat. Umso erstaunlicher, dass kaum jemand sie kennt: die Tulou von Yongding.

Tief versteckt in der lieblichen Hügellandschaft der südostchinesische Tee-Provinz Fujian bilden hunderte der traditionellen Rundhäuser der Hakka, die Tulou, wörtlich Erdgebäude, eine landesweit einzigartige Sehenswürdigkeit. Diese ebenso obskuren wie aufwändig errichteten Tulou sind riesige, überwiegend runde Gebäude, die bis zu mehrere Meter dicke Außenmauern besitzen. Diese sehen nicht nur skurril aus, sondern fühlen sich auch faszinierend warm an. Die Zusammensetzung des natürlichen Baustoffs ist eine wilde Mischung aus Erde, Kalk, gekochtem Klebreis und braunem Zucker, der mit Holz- und Bambusstreifen verstärkt wird. Diese Bauweise ist sowohl gegen widrige Klimaeinflüsse als auch gegen Erdbeben und – zu früheren Zeiten – auch gegen Feinde extrem widerstandsfähig. In Zeiten der Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung ist diese Lehmbauweise ein geradezu vorbildlicher Ansatz.

Ich laufe begeistert um diese drei- bis fünfstöckigen Komplexe herum und entdecke immer neue architektonische Details. Ursprünglich als Verteidigungsbauwerke konzipiert, besitzen die Tulou quasi keine Fenster, sondern schiessschartenartige Öffnungen. Beim Anblick dieser stoischen Trutzburgen fühle ich mich ins Mittelalter versetzt, vor allem, wenn man bedenkt, dass sie seit dem 12. Jahrhundert bis in die Gegenwart fast unverändert gebaut werden, wobei die aufwändigsten Gebäude aus dem 17. und 18. Jahrhundert stammen. Beeindruckend ist auch die schiere Größe mit einem Durchmesser von über einhundert Metern, der Lebensraum für bis zu 800 Personen bietet. Ein Haus – ein ganzes Dorf. Der einzige Eingang in das Innere des Gebäudes kann hermetisch verschlossen werden und so konnten die Bewohner mit Vorräten und eigenem Brunnen ausgestattet feindliche Belagerungen über mehrere Monate überstehen.

Die Bewohner nehmen mich sehr freundlich auf, freuen sich über das aufrichtige Interesse einer Chinesich sprechenden „Da bize“ (Langnase = Ausländer) und zeigen mir gerne Ihre Lebens- und Arbeitsräume in dem großen runden Innenhof. Dieser besteht aus zwei oder mehr konzentrischen Kreisen, wo sich auch Brunnen, Badehäuser und Getreidemühlen befinden.

Im Erdgeschoss sind die Küche und die Essräume angeordnet, der erste Stock dient als Lager. Darüber befinden sich die sehr einfach ausgestatteten Schlafräume aus Bambuskonstruktionen. Dazwischen gibt es eine Ahnenhalle, die von allen Bewohnern für Hochzeiten, andere Festlichkeiten oder Begräbnisse genutzt wird. Ich bewundere die verzierten Ziegeldächer und überhängenden Traufen, die oft reich dekorierten Wände und mit Schriftzeichen versehenen Türen. Es ist unglaublich still und friedlich und die Zeit scheint hier stehen geblieben zu sein, was in dem hektischen Riesenreich, das gefühlt seit Jahrzehnten nur auf der Überholspur ist, eine willkommene Ausnahme darstellt.

Die runde Form der Gebäude ist ein ungewöhnlicher Blickfang, doch der Grund für diese Bauweise wird mir schnell erklärt. Tulou sind rund, weil sich böse Geister nach chinesischem Glauben lieber in der Ecke aufhalten. In einer runden Konstruktion finden sie keinen Platz und so verschont die Architektur die Bewohner vor Unglücken. Auf den ersten Blick erinnern mich die Tulou an das Kolosseum in Rom, aber in den 1960er Jahren dachten argwöhnische CIA-Agenten nach der Auswertung von Luftbildern, es handele sich um geheime Raketen-Abschussbasen. Der Blick aus der Vogelperspektive läßt diese Fehlinterpretation durch aus. Am bekanntesten ist die Tianluokeng-Gruppe im Dorf Shangban von Shuyang. Dieser Cluster besteht aus vier runden Tulou, wovon eines elliptisch und die anderen kreisförmig sind, die um ein quadratisches angeordnet sind. Das einzigartige Arrangement symbolisiert die fünf Elemente des Feng Shui: Metall, Holz, Wasser, Feuer und Erde und stellt dadurch die architektonische Verbindung zwischen Mensch und Natur her.

Obwohl nur eine Tagesreise mit dem Überlandbus von Hong Kong entfernt, werden die Tulou vergleichsweise wenig von westlichen Touristen bereist und konnten sich so ihren ursprünglichen Charme bewahren. Im Jahr 2008 wurden 46 der Tulou von Fujian zu Recht von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. Ob als monumentale Einzelbauten oder als komponierte Ensembles, es gibt keine vergleichbare Architektur auf der Erde.

Hoffentlich prägen diese selbstbewussten und majestätischen Lehmrundbauten auch noch in hundert Jahren die Landschaft Südchinas und funktionieren so weiterhin als Herzstück der Hakka-Kultur. Für mich sind die Tulou mehr als nur spektakuläre Wahrzeichen der Region und aussergewöhnliche Denkmäler einer lebendigen Kultur. Sie zählen für mich zu den herausragenden Bauwerken Chinas, die deutlich machen, welche nahezu unbekannte Schätze das Land selbst vielgereisten China-Interessenten noch zu bieten hat.