REISEN DER ZUKUNFT – BETRACHTUNGEN TEIL 2
Sich mit existentiellen Fragen rund ums Reisen auseinander zu setzen, ist nicht nur in Zeiten von Corona verpflichtend. Drei Blogs widmen sich wichtigen Themen, die unter die Haut gehen. Teil 1 wurde am 30.3.2020 veröffentlicht
Frage 3: Wie lernst Du Dich auf deinen oftmals grenzwertigen Expeditionen kennen?
In dreißig Jahren habe ich nicht nur die Welt, sondern auch mich selbst konsequent erforscht und meinen Körper sehr intensiv kennengelernt. Inzwischen weiß ich ziemlich genau, was ich kann und was ich mir zumuten darf. Das ist auf jeder Expedition genauso entscheidend.
Grundregel Nummer Eins: Akzeptiere deine Grenzen, sonst wird es nicht nur gefährlich, sondern auch leichtsinnig. Damit wird man zu einer Gefahr für sich und für seine Mitreisenden. Je extremer die Anforderungen einer Expedition sind, umso mehr gilt es, auch „nein“ sagen zu können. Wenn das Risiko zu groß und unkalkulierbar wird, und eine lang geplante Expedition unvermittelt abgebrochen werden muss, ist es eine brutal schwere Entscheidung. So ging es mir z.B. 1998 bei dem Versuch einer Umrundung des heiligen Berges Kailash in West-China, als wir auf 5.000 Metern eingeschneit sind und unsere Yaks den vereisten Pass nicht mehr passieren konnten. Wir sind umgedreht und es war richtig so.
Ein wichtiger Erfolgsfaktor besteht darin, unbedingt zu wissen, was mein Körper an Strapazen, an Hitze, Kälte, Übermüdung oder Mangelernährung aushält. Aber, fast noch wichtiger, wie mental belastbar bin ich, wenn ich mit unvorhersehbaren Problemen oder lebensbedrohlichen Krisen konfrontiert werde? Wie reagiere ich, wenn ich in einem Krisengebiet unterwegs bin und jede Minute von mit AK47-Kalaschnikows bewaffneten Soldaten umgeben bin, die sogar nachts vor meinem Zelt sitzen?
Paramilitärischer Begleitschutz bei unserer Danakil-Durchquerung in Äthiopien, 2017
Was bin ich bereit zu tun, und zu lassen, um mein Ziel zu erreichen? Jede Expedition ist wie eine mathematische Gleichung mit einer Vielzahl an Unbekannten. Dazu zählen unklare Entfernungsangaben, gefährliche Wegverhältnisse, ungeplante Wetterverhältnisse, nicht erteilte Genehmigungen, undurchsichtige Sicherheitslage oder Verschlechterung der Versorgungssituation. Die größte Herausforderung ist immer der Faktor Mensch, wie z.B. der adäquate Umgang mit korrupten Grenzbeamten, betrunkenen Soldaten oder auch die Suche nach kompetenten und vertrauenswürdigen Führern und Trägern.
Die Devise „Geht nicht, gibt’s nicht“ mag sich abgegriffen anhören, hat aber eine klare Daseinsberechtigung. Stellt euch vor, ihr steht vor einer morschen, wackeligen Brücke, die den einzigen Weg über einen reissenden Dschungelfluss darstellt. Fällt man runter, ist man tot. In Neuguinea muss ich immer als Erster nach drüben gehen, weil ich der Schwerste im Team bin. Die Logik: Wenn die Stämme bei mir halten, tun sie es bei den anderen auch. Wenn es weder Aus- noch Umweg gibt, heisst es Augen auf und durch. Die ungeheure Angst kann ich nicht verleugnen, aber mich ihr zwangsweise zu stellen, hat mich stark gemacht. Meine Erfahrung im Umgang mit unvorhersehbaren Schwierigkeiten und dass ich mich immer auf meine mentale und physische Leistungsfähigkeit verlassen konnte ist gepaart mit der richtigen Einstellung und der unbedingte Wille der halbe Erfolg jeder Expedition bis ans Ende der Welt.
Frage 4: Wie gehen wir mit unserer Angst vor gesichtslosen Gegnern wie Viren oder Krankheiten um?
Es gibt viele Formen von Angst und aus Kindheitszeiten kenne ich natürlich auch die bekannten Fragen: Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann? Niemand! Und wenn er kommt? Dann laufen wir. Vor einem Virus jedoch kann man nicht weglaufen wie vor manch anderer, realer Gefahr. Angst ist dabei ein ganz normales und wichtiges Alarmzeichen des Körpers, wenn eine Ausnahmesituation bei Gefahr droht. Jeder hat von den beiden klassischen Reaktionen des Körpers gehört: Flucht oder Kampf. Beides funktioniert bei Viren wie Corona nicht. Der dritte Weg bedeutet die gezielte Auseinandersetzung mit dem unsichtbaren Feind. Wir können ihm nicht entfliehen. Wir müssen uns ihm stellen. Wir können uns bestmöglich schützen und behandeln lassen, aber wir können ihn nicht ignorieren. Nicht jetzt und nicht in Zukunft, weil die Verbreitung von Viren die fast natürliche Folge einer globalisierten Welt ist. Da kann es jeden treffen, wobei ein regelmäßiger Aufenthalt in exotischen Ländern wie Neuguinea die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung natürlich deutlich steigert.
Ich zum Beispiel habe Malaria. Diese chronische Infektionskrankheit, die ich mir erstmals 1986 in Pakistan eingefangen habe, hat mir schon die fürchterlichsten Stunden meines Lebens beschert und ich dachte mehrfach, ich würde sterben. Die Anfälle kommen alle paar Jahre ziemlich unvermittelt wieder, so z.B. auch an einem Weihnachtstag im Kreise meiner Familie, während einer wichtigen Kundenpräsentation in Shanghai, auf dem Rückflug von Asien nach Deutschland mitten über dem Himalaya und der Pilot kam persönlich zu mir und fragte, ob er notlanden müsse, weil er Angst hatte, ich würde die heftigen Fieber- und Schüttelfrost-Attacken nicht überleben. Wenn es mich im Dschungel erwischt, ist es ganz übel, weil es keinerlei medizinische Versorgung mit Sauerstoff gibt. Mittlerweile habe ich mich so gut es geht mit meiner Malaria arrangiert, zumal ich weiß, dass sie jederzeit wieder zum Ausbruch kommen kann. Ich höre sehr genau in meinen Körper hinein und bei kleinsten Anzeichen eines sich ankündigenden Ausbruchs lasse ich mich sofort ins Krankenhaus fahre, weil ich weiß, nur eine halbe Stunde später nicht mal mehr allein stehen zu können.
Unser Ökosystem ist genauso fragil wie unser Körper. Wir müssen bei beiden die Schwächen (er-)kennen und dann an Lösungen arbeiten. Besiegen können wir die Angst nicht, aber das ist auch gut so. Also stellen wir uns unserer Angst und akzeptieren wir sie als Teil unseres Ichs. Dieser lange Prozess des intensiven sich selbst Kennenlernens inklusive aller Ängste hilft mir auch durch fast alle beruflichen oder privaten Krisen jenseits der Wildnisgebiete der Erde.