ABENTEUERREISEN EXPEDITIONSPLANUNG
Expeditionsreisen sind unverzichtbarer Teil meines Lebens, ohne die ich mich leer fühlen würde. Eine neue Extrem-Tour zu planen, ist ein Vorgang, der mich in ein unvergleichliches Hochgefühl versetzt. Hier kann ich wirklich ‚ich‘ sein und eine im Alltag verborgene Seite meines Daseins ausleben, die kaum jemand hinter der bürgerlichen Fassade eines Westfalen vermuten würde. Dabei geht es nicht nur darum, neue Kulturen kennen zu lernen oder wie bei einer normalen Reise den eigenen Horizont zu erweitern. Ich will Grenzen überschreiten – räumlich, physisch und psychisch. Mehr noch, ich lechze danach, mein überschaubares, geregeltes Leben in Deutschland und die Annehmlichkeiten der Zivilisation kompromisslos einzutauschen gegen die Unwägbarkeiten der ungezähmten Wildnis. Erst wenn der Regen aufs Zeltdach prasselt und der selbst gefangene Leguan auf dem Lagerfeuer brutzelt, dann bin ich richtig glücklich.
Geforderte Qualitäten: Outdoor-Lust, Koch-Kunst und Verzicht-Fähigkeit
Wie gelange ich zu meinem Expeditionsziel? Das Abenteuer beginnt immer im Kopf und manchmal ist es ein einzelnes Wort, das ich irgendwo zufällig höre oder lese. Vielleicht ist es der Name eines ausgebrochenen Vulkans, eine besonders seltene Tierspezies oder eine neu entdeckte Volksgruppe, die mich wie ein Insektenstachel unvermittelt trifft und sofort infiziert. Manchmal ist es auch ein unbekanntes Land, das als Stichwort dient, so wie „Angola“ – stellvertretend für Wüste, Blutdiamanten oder Bürgerkrieg. Da will niemand hin – außer mir. Warum ist das so? Weil mich vermeintliche Gefahren faszinieren und ich mich ihnen stellen möchte. Ich folge dabei dem inneren Drang, die Sicherheitszone zu verlassen und meine Fähigkeiten unter Beweise zu stellen. Expedition heißt Neuland zu entdecken. Auch das in mir drin. Je mehr Unwissen und Unwägbarkeiten eine Ziel bietet, umso besser, exklusiver und anspruchsvoller erscheint die Reise.
Geforderte Qualitäten: Neugier, Hingabe und Doppelleben-Akzeptanz
Wo genau liegt dieses Ziel, das sich vor meinem geistigen Auge zu einer Expeditionsreise formt? Hat es ausreichend Potential, um meinen extremen Ansprüchen gerecht zu werden? Vermag es meine tief sitzende Sehnsucht weiter anzustacheln? Sofort geht es an meinen überbordenden Bücherschrank, denn spätestens der dient als gnadenloser Anstifter. Seit Jahrzehnten sammele ich Bücher und Reportagen über die ungewöhnlichsten Ziele der Welt. Meistens stammen die Werke aus den 1950er bis 1970er Jahren, bevor der globale Massentourismus Einzug gehalten hat. Sie sind vergilbt, abgegriffen, mit abgestoßenen Ecken versehen und haben mich schon hundertfach auf die abenteuerlichsten Fantasiereisen begleitet. Sich hier stundenlang in den Weiten der Wüste zu verlieren, alte Lexika zu durchstöbern oder längst vergessene Routen neu zu entdecken, ist mehr als die Suche nach Reiseinspirationen, es ist eine echte Bedürfnisbefriedigung.
Geforderte Qualitäten: Leselust, Recherche-Knowhow und Staubresistenz
Immer mehr Bücher landen aufgeschlagen auf dem Boden. Ich vergesse alles um mich herum und sauge die unterschiedlichsten Themen, die alle verlockend erscheinen, atemlos auf. Ich überlege, welche Reisebeschreibungen heute wohl noch aktuell sein mögen, und versuche, in mich und in das Leben in der Ferne hineinzuhorchen. Welche Landstriche oder Volksgruppen werden Morgen vielleicht durch zivilisatorische Umwälzungen, Umweltzerstörung oder neu Infrastrukturmaßnahmen verschwunden sein? Wo kann ich heute noch Ursprünglichkeit erleben? Welches Ziel ist drängend, um es jetzt besuchen zu müssen und welche Region kann noch warten? Die Fremdartigkeit muss mich völlig vereinnahmen. Erst, wenn ich beim Lesen Gänsehaut verspüre, bin ich auf der richtigen Spur.
Geforderte Qualitäten: Sehnsucht, Kreativität und Vorstellungsvermögen
Dann hole ich meine Schatzkiste aus dem Keller, in der ich seit Jahrzehnten Landkarten aus aller Welt horte. Ich wühle mich mit wachsender Begeisterung durch zerfledderte Bögen, fahre mit den Fingern über unbekannte Straßen, entdecke merkwürdige Städte, namenlose Oasen und lockende Bergzüge. Mit dem alten Papier in Fingern kann ich das Abenteuer förmlich riechen. Landkarten sind meine Schwachstelle. Sie ziehen mich magnetisch an. Sie sind Verführer. Sie sind aber auch überlebenswichtige Begleiter in Gegenden, wo ein GPS nicht hilft. Mondernste Technik ist ein wunderbares Hilfsmittel, aber im zentralen Hochland von Neuguinea beispielsweise absolut wertlos. Hier gilt nur eine Prämisse: die Reduktion auf das Wesentliche.
Geforderte Qualitäten: Geographiekenntnisse, Rechenkünste und Unberirrbarkeit
Noch lasse ich mich treiben, doch werden bereits die ersten Stichwort-Listen angelegt. Die ursprüngliche Idee weicht manchmal einem ganz neuen Plan. Aus dem Kongo-Dschungel wird die Namib-Wüste, aus Tierbeobachtungen ein Studium ethnischer Minderheiten. Ist das Land, die Gegend oder das Thema gefunden, beginnt die systematische Recherche. Ich fresse mich durch Bücher, suche nach alten Artikeln aus dem ‚National Geographic‘, recherchiere kreuz und quer im Internet, mache Aufzeichnungen, entwickele Gedankenspuren, denen ich instinktiv folge. Es folgt der Austausch mit Forschern, Wissenschaftlern und anderen Reisenden. In meinem Hirn konkretisieren sich Ideen und das idealisierte Bild in meinem Kopf lässt mich nicht mehr los. Die Entscheidung ist gefallen. Die innere Unruhe weicht einer steigenden Aufregung und wird ein ständiger Begleiter.
Geforderte Qualitäten: Strategie, Systematik und Sütterlin-Verständnis
Unzählige Entscheidungen müssen nun getroffen werden, über die Anreisemöglichkeiten (gechartertes Flugzeug?), die mögliche Logistik vor Ort (Jeep oder Kanu?), den Umgang mit problematischen Wetterverhältnisse (Monsun, Sandstürme?), Einschätzung der Sicherheitssituation (bewaffnete Aufstände, Straßenräuber?), die Genehmigungsverfahren für mögliche Sperrgebiete (militärischer Begleitschutz?), die Festlegung des Budgets (Dollar, Euro, Reserven?). Was mag an potentiellen Risiken und Gefahren auf uns zukommen? Was den „normalen“ Reisenden abschreckt, erhöht bei mir nur den Drang, endlich dorthin zu reisen, wo die Extreme meine Fantasie beflügeln. Dann bin ich ganz in meinem Element.
Geforderte Qualitäten: Planungssicherheit, Selbstvertrauen und Reisepass-Vielfalt
Und immer wieder taucht die Frage nach der Relevanz der nächsten Reise auf und schwere Gedanken verfolgen mich. Passen alle Eckdaten der bevorstehenden Tour zusammen? Ist das Konzept für mich schlüssig? Wie erreiche ich mehr als nur die egoistische Befriedigung von Exotik-Bedürfnissen und nach Nervenkitzel? Das allein wäre viel zu wenig, zu kurz gedacht und vor allem längst nicht mehr zeitgemäß. Welche Verantwortung kann und will ich für die Menschen vor Ort übernehmen? Wie kann ich ihnen helfen? Welchen Beitrag kann ich zur Erhaltung ihrer Lebensräume leisten? Welche Verpflichtung gehe ich gegenüber der Umwelt ein? Welche Rolle spielt das in meiner Tour-Planung? Wie kann ich meinem Anspruch an Qualität, an Nachhaltigkeit und an bewusstem Reisen gerecht werden? Wie kann ich meiner Reise zu einer Sinnhaftigkeit verhelfen?
Geforderte Qualitäten: Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Improvisationstalent
Was dann folgt, ist wirklich harte, aber überaus lustvolle Arbeit: Flüge und Fahrzeuge vor Ort buchen, vielfältiges Kartenmaterial auswerten, Sprachkenntnisse auffrischen, Ausrüstung überprüfen und komplettieren, Lebensmittelfragen klären, Botschaften kontaktieren, Empfehlungsschreiben einholen, Begleitmannschaft vor Ort zusammenstellen, Tier- und Pflanzenwelt studieren, Sitten und Gebräuche von Volksgruppen einschätzen, berufliche Übergabelisten vorbereiten, ggf. sogar mein Testament aktualisieren. Die Hirnhälften laufen auf Hochtouren. Nur zu gerne lasse ich mich von der Planung vollständig vereinnahmen. Neue Hürden und Herausforderungen im Vorfeld zu meistern, sind unumgänglich, aber auch explizit erwünscht, denn das ist die wahre Essenz jeder Expedition.
Geforderte Qualitäten: Detailverliebtheit, Disziplin und Lösungsorientiertheit
Expeditionsplanung ist immer ein dynamischer Prozess. Bis zur letzten Minute. Man muss das Ziel, den Weg dahin und sich selbst ständig in Frage stellen und alle Parameter wieder anpassen. Wie entwickeln sich in den überwiegenden Dritte-Welt-Ländern die kulturellen, politischen und gesellschaftsrelevanten Aspekte über die Monate hinweg? Bin ich darauf vorbereitet? Habe ich die richtigen Fragen gestellt? Habe ich die richtigen Antworten gefunden? Parallel erfolgt dauernd die kritische Hinterfragung der eigenen Motivation, der Fähigkeiten, der Gesundheit und der Fitness. Bin ich bereit und in der Lage, alle Unwägbarkeiten vor Ort erfolgreich zu meistern? Vor mir selbst zu bestehen? Was für ein Abenteuer! Dabei hat es noch gar nicht angefangen.
Geforderte Qualitäten: Vorfreude, Überzeugungskraft und Selbstkritik
Und dann kommt so etwas Unvorstellbares wie Corona und zeigt, wie schnell eine noch so gute Expeditionsplanung zu Nichte gemacht werden kann. Da hilft weder schnelles oder flexibles Denken, noch Risikobereitschaft oder die Bereitschaft für Sprünge, Wandel und Veränderung. Statt Überschwemmungen, kriegerischen Stämmen, Irrfahrten oder Unfällen fällt alles den unbeeinflussbaren Rahmenbedingungen einer unsichtbaren Seuche zum Opfer. Hält mich das ab? Natürlich nicht! Das Abenteuer steckt in mir drin und es wird immer ein dominierendes Element meines Lebens sein. 2020 muss es wohl bei der Planung bleiben, aber die Realisierung erfolgt spätestens im nächsten Jahr. Versprochen!