DUFTORTE DER WELT FÄRBEREIEN VON FES
Als Birgit vor einigen Wochen über Duft- und Sehnsuchtsorte schrieb, schloss ich die Augen und versuchte, mich an besondere Orte zu erinnern, die mir durch ihre einzigartigen Gerüche im Gedächtnis geblieben sind. Sofort schossen mir die atemberaubenden Schwefeldämpfe des Erta Ale Vulkans in Äthiopien und die scharf angebratenen Chili-Schoten der Garküchen Saigons durch den Kopf. Doch letztlich machte Fès, eine der vier Königsstädte Marokkos, das Rennen um Platz Eins der olfaktorischen Erlebnisse. Von seinen weltberühmten Färbereien möchte ich euch heute berichten.
1984, unmittelbar nach meinem Abitur, bin ich mit einem Freund von Bielefeld nach Nord-Afrika getrampt. Unser erklärtes Ziel: Casablanca und Rick´s Cafe. Obwohl wir wussten, dass es dieses legendäre Etablissement nie wirklich dort gegeben hat, diente uns dieser cineastische Sehnsuchtsort als Devise einer wochenlangen Odyssee durch Europa. Zwar erreichten wir Casablanca, doch letztlich war es der Besuch der UNESCO-Weltkulturerbestadt Fès, die uns 19-jährige so nachhaltig faszinierte. Dreissig Jahre später besuchte ich die Stadt erneut, um nachzuforschen, ob Fès sich seine Ursprünglichkeit bewahren konnte.
Die Altstadt von Fès ist mit ihren treppengesäumten, teils nur 50 cm breiten Gassen, den mittelalterlichen Bauten und der maurischen Rundbogen-Architektur, ist ein Highlight sondergleichen. Sobald man durch das ‚Blaue Tor‘, das sogenannte ‚Bab Bou Jeloud‘ durchschreitet, beginnt eine Zeitreise durch die authentischste aller Königsstadt-Medinas. Stundenlang schlendere ich im Zickzack durch das Gassengewirr der orientalischen, terrassenförmig angelegten Altstadt Fès el Bali mit seinen Souks Attarine und Kissarya. Ich ergötze mich an Gold- und Kupferschmieden, Teppich- und Gewürzhändlern, Tischlern und Kleidermanufakturen und über allem hängt der schwere Duft von Feigen, Datteln und türkischem Honig.
Ich bin auf der Suche den alten Gerbereien und Färbereien, wo hoffentlich immer noch nach mittelalterlichen Methoden Leder und Felle gegerbt, gefärbt und weiterverarbeitet werden. Doch diese traditionellen Handwerksplätze in diesem Basar-Labyrinth ohne ortskundigen Führer zu entdecken, ist kaum möglich. Über schmalste, gewundene Pfade und kleinste, unscheinbare Gassen laufend, betreten wir schließlich ein historisches Gebäude ohne Eingangsschild. Über endlose Treppen und Stiegen gelangen wir in die oberen Etagen eines Geschäftes für Lederartikel. Von dort offenbart sich ein sensationeller Blick auf einen völlig umbauten Innenhof. Ich bin am Ziel. Vor oder vielmehr unter mir liegt die älteste und größte Ledergerberei und Färberei Marokkos mit Namen ‚Chouara Tannery‘.
Dutzende von Steintrögen, Becken und Wannen, deren wabernde Inhalte in allen vorstellbaren Farbvariationen in der Sonne schimmern, liegen dicht an dicht unter mir. Ich wechsele immer mal wieder den Standort und wandere von einer Terrasse und Balkon zum nächsten. Aus immer neuen Perspektiven kann ich in Ruhe und unbeeinträchtigter Faszination den Gerbern und Färbern dabei zusehen, wie sie inmitten des unappetitlichen Gewusels von Behältern und Tierhäuten mit bloßen Händen und Füßen das Leder bearbeiten.
Die Felle und Häute werden tagelang in den Bottichen mit Wasser, Salz und Chemikalien behandelt und eingeweicht, gedreht und gewendet, bevor die Häute gespült und getrocknet werden. Männer sitzen mit nackten Beinen in der dicken Suppe und man mag sich nicht vorstellen, welche Hautreizungen sie davon tragen müssen. Dieser archaische Prozess, dem ich mich mehrere Stunden des Zuschauens hingebe, ist überaus beeindruckend. Ich habe das Gefühl, hier wäre seit den 1980er Jahren tatsächlich die Zeit stehen geblieben.
Doch die Lederfertigung folgt heutzutage angeblich völlig anderen Gesetzen als noch vor dreissig Jahren. Das uralte System der Lederbehandlung, wo man noch mit Brandkalk, Tierurin, Taubenkot und anderen, schwer definierbaren und giftigen Chemikalien gearbeitet hat, sei heute Geschichte. Die Gesundheit der Arbeiter wäre wichtiger und auch das Endprodukt wäre völlig frei von belastenden Rückständen. Das wäre eine gute Nachricht, aber ich möchte mich selbst davon überzeugen und den Handwerkern hautnah bei ihrer Arbeit zusehen. Also steige ich über verwunschene Gänge tief nach unten, wobei das von den Führern gar nicht gerne gesehen wird. Zu groß ist die Unfallgefahr auf dem glitschigen Untergrund.
Mit Gesichtstüchern und marokkanischen Minze-Blättern in den Nasenhöhlen bewaffnet, versuchen wir dem überwältigenden Gestank etwas entgegen zu setzen. Es ist hoffnungslos. Aus den Becken und Behältern strömen derart intensive und vor allem scharfe Gerüche, dass es kaum auszuhalten ist. Vorherrschend ist Ammoniak, dessen stechende und ätzende Gase ich in meinem Leben nie vergessen werden. Die Männer sind von oben bis unten mit Chemie und Farbe eingesaut und allein der Anblick tut weh. Auf die Fragen, ob die diversen Flüssigkeiten wirklich alle ungiftig und harmlos wären, lachen sie nur.
Später, nachdem wir ohne folgenschweres Ausrutschen die bunte Trog-Landschaft wieder verlassen haben, bewundere ich die auf allen Dächern zum Trocknen ausgelegten Tierhäute, die später zu preisgünstigen Lederprodukte wie bunten Taschen, Gürteln, Jacken, Handschuhen und Kissenbezügen verarbeitet werden. Nun weiß ich die immense Arbeit, die in diesen Produkten steckt, ganz anders zu würdigen und wertzuschätzen.
Mein Wiedersehen mit Fès war uneingeschränkt großartig und ich hätte nicht erwartet, hier so wenige Veränderungen vorzufinden. Die Färbereien erwiesen sich erneut als Highlight meines Besuchs, doch der Preis der Gesundheit, den die Gerber und Färber für billige Lederwaren bezahlen müssen, erscheint mir unangemessen hoch. Gerade in heutiger Zeit des steigenden Umweltbewusstseins und der Rückbesinnung auf die Natur sollte es möglich sein, belastungsarme Fertigungsalternativen zu entwickeln und trotzdem die alten Handwerkskünste zu bewahren.