NATURPARADIES SÜD-GEORGIEN
Bevor ich vor vielen Jahren zum ersten Mal in die Antarktis fuhr, hatte ich noch nie von Süd-Georgien gehört. Ich konnte mir damals nicht vorstellen, dass sich irgendwo fernab der Zivilisation mitten im Südatlantik eine unbewohnte Insel mit einem so faszinierenden Tierleben verbergen könnte. Seit meinem ersten Besuch hat sich Süd-Georgien ganz klar einen der Top-Drei-Plätze meiner persönlichen Liste der weltweit spektakulärsten Naturschauplätze erobert. Das ist ein Prädikat, das ich nicht ohne Grund vergeben würde.
Das kleine Expeditionskreuzfahrtschiff ‚MS Hanseatic‘ von Hapag Lloyd Cruises auf dem Weg von der antarktischen Halbinsel nach Süd-Georgien
Das britische Überseegebiet Süd-Georgien – etwa 1400 km östlich der Ostküste Südamerikas gelegen – gilt als wohl wichtigstes Brutgebiet der Königspinguine. Ein Besuch Süd-Georgiens ist das Highlight jeder Antarktis-Reise. Es wird geschätzt, dass in den riesigen Kolonien von Gold Harbour, St. Andrews Bay oder Salisbury Plain bis zu einer halben Million dieser majestätischen Tiere leben. Die Zahl mag imposant erscheinen, aber es erscheint mir unmöglich, den unbeschreiblichen Anblick dieses endlos erscheinenden Meeres von hunderttausenden Pinguinen auch nur ansatzweise in adäquate Worte zu fassen. Vielleicht wäre ‚überwältigend‘ angemessen oder auch ‚atemberaubend‘, denn auch die Ausdünstungen der fracktragenden Zweibeiner sind ein sinnesbetäubendes Erlebnis. Diese schieren Massen an Pinguinen wirken eher wie ein abstraktes Gemälde – ein wahres Wimmelbild.
Dazu kommen die dominanten Farben des Brustfederkleides. An dieser Kombination aus strahlendem Weiß, goldenes Gelb, leuchtendem Orange und Metallic-Anthrazit kann ich mich nicht sattsehen. Die Schönheit der Natur präsentiert sich hier wieder einmal in unerreichter Weise. Wenn das gleissende Sonnenlicht auf die frisch gebadeten Körper prallt, hat man eine einzigartige Farbkomposition vor sich, die kein Künstler hätte perfekter in Szene setzen können. Ich hätte nie gedacht, mich für Vögel, die bislang nicht zu meinen bevorzugten Tiergattungen zählten, so uneingeschränkt begeistern zu können. Beim Anblick dieser prachtvollen Geschöpfe könnte ich vor Begeisterung platzen.
Wir Lektoren dürfen bei den jeweiligen Anlandungen immer für ein paar Stunden zu Gast sein. Unsere Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass auch die Gäste bei den Anlandungen respektvollen Abstand zu den Tieren einhalten, wenn sie zwischen den laut schnatternden Pinguinen herumschlendern. Aufrecht stehend, sind die putzigen Sympathieträger etwa 80 Zentimeter groß. Ihr Watschelgang und ihr Kommunikationsverhalten verleiht ihnen etwas zutiefst Menschliches. Das hätte ich in dieser Form nie erwartet und plötzlich kann ich die große Begeisterung anderer Antarktisfahrer für die großen, flugunfähigen Seevögel sehr gut nachvollziehen. Wie muss es da jedoch in einem Menschen aussehen, der Pinguine als Heizmaterial lebend in einen Kocher wirft, was bis Mitte letzten Jahrhunderts bei Walfängern durchaus üblich war?
Bei jedem Individuum, jedem Paar und jeder Gruppe gibt es immer Neues und Aufregendes zu entdecken. Und ich bin mitten drin und ich begegne ihnen fast auf Augenhöhe. Gleichberechtigt? Nein! Süd-Georgien ist Tier-Territorium und ich bin nur temporär geduldeter Gast. Also benehme ich mich auch so und nehme Rücksicht auf die Küken und die Laufwege der Eltern Richtung Wasser. Trotzdem ist dieses Gefühl des fast hautnahen Kontakts kaum zu beschreiben. Es fühlt sich so unwirklich an – eine kuriose Mischung aus purem Glück, völliger Euphorie, tiefer Demut, totaler Dankbarkeit und visueller Überforderung. Ich kann meinen Augen kaum glauben. Es ist einfach nur sensationell. Die Stunden vergehen im Fluge und die Speicherkarte meiner Kamera glüht.
Doch werfen wir noch einen kurzen Blick in die Vergangenheit. Von Anfang des 19. Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts diente Süd-Georgien vornehmlich Robben- und Walfängern als Landstützpunkt. Grytviken, der beste Naturhafen auf der Insel, wurde 1904 vom Norweger Carl Anton Larsen gegründet. Der Ort diente bis zu ihrer Schließung 1966 als industrielle Basis für Walfang und -verarbeitung. Überreste davon sind bis heute erhalten geblieben, z. B. die riesigen Walöl-Tanks und die ‚Whalers Church‘, eine Holzkirche, die man in vorgefertigten Einzelteilen aus Norwegen nach Grytviken brachte und die zum Weihnachtsfest 1913 geweiht wurde. Ich sitze allein auf einer Kirchenbank und denke über die alten Zeiten nach.
Von den alten Walfangstationen sind heute nur noch rostige Gebäudegerippe übrig. Zwischen den alten Anlagen in Grytviken gehe ich auf Entdeckungsreise und stelle mir vor, wie es hier noch vor wenigen Jahrzehnten gelärmt und gerochen haben muss. Ich kann mir nicht richtig vorstellen, dass hier jeden Tag Wale grausam getötet und zu Tran verarbeitet wurden. Das Freilichtmuseum Grytviken ist ein nachdenklich machendes Mahnmal aus Zeiten, als Wale nicht schützenswerte Meeresbewohner, sondern einzig als wertvolle Ressource zur Herstellung von Seife, Öl, Leim, Margarine und Basisstoffe für Kosmetikprodukte gesehen wurden. Über Artenschutz hat sich damals niemand Gedanken gemacht. Das war ein Luxus, den sich ein Walfänger bei seiner lebensgefährlichen und oftmals auch alternativlosen Arbeit in der Antarktis nicht leisten konnte.
Den Anblick des alten Walfangschiffs Petrel, das hier am mit ausgeblichenen Walknochen übersähten Strand von Grytviken liegt, lässt mich über die harten Knochenarbeit der Walfänger nachdenken, für die der Tod der Tiere die eigene Lebensgrundlage darstellte. Die Ambivalenz der Situation ist nicht zu leugnen.
Gruselig und schockierend empfinde ich die sechzig Zentimeter langen, massiven Eisengranaten, die moderne Harpunen in die Körper der Wale schossen, wo sie explodierten.
Asbestverseuchte Ruinen einer lange aufgegebenen und für Besucher gesperrte Walfangstation am Strand vom Stromness.
Ein Muss – nicht nur für einen Abenteurer wie mich – ist der Besuch des Grabes des britischen Polarforschers Ernest Henry Shackleton. 1916 fand seine legendäre Reise nach dem dramatischen Scheitern der Endurance-Expedition (1914-1917) in Südgeorgien ihr glückliches Ende. Sein Schiff war im Packeis zerquetscht worden und die Mannschaft konnte sich über das Eis nach Elephant Island retten. Sechs Männer segelten die 800 Seemeilen im kleinen Rettungsboot ‚James Caird‘ bis zur Südküste Südgeorgiens. Shackleton überquerte die unwirtlichen Gletscherberge zu Fuß und traf am 20. Mai 1916 in Stromness ein. Ihm zu Ehren wandert eine Gruppe von Kreuzfahrern einen Teil seines Weges, der als Shackleton Walk bekannt ist, über die unwirtlichen Berge.
Nach seiner Ankunft auf Süd-Georgien gelang es Shackleton, in einer spektakulären Mission die erfolgreiche Rettung der Teilnehmer der gesamten Expeditionsmannschaft zu organisieren. Eine fast unglaubliche Geschichte! 1922 wurde er auf dem kleinen Friedhof Grytvikens begraben, nachdem er zu Beginn einer weiteren Expedition gestorben war. Shackleton gilt als einer der ganz großen Forscher, Polarhelden und Abenteuer dieser Welt, vor dessen Wagemut man nur den Hut ziehen kann.
Noch ganz in Gedanken an die große Zeit der Entdeckungen in der Antarktis, kommen mir in Stromness die vielen Seelöwen am Strand ins Gedächtnis. Nicht vergessen zu erwähnen, sind auch die gewaltigen Seeelefanten, die nicht nur am Strand der Fortuna Bay faulenzend im Sand liegen. Diese bis zu fünf Meter langen, viele Tonnen schweren Kolosse sehen bisweilen wie Urzeitwesen aus, wenn sie sich grunzend aus dem Sand und über den Boden wälzen. Ein archaischer Anblick, den ich nie vergessen werde. Da fällt die Einhaltung des Sicherheitsabstandes nicht schwer, denn es sind ohnehin nur wenige Meter, die mich von diesen ehrfurchtgebietenden Tieren trennen.
So sehr wir Menschen uns auch von großen Tieren wie Seeelefanten unterscheiden mögen, umso erstaunlicher finde ich die Gemeinsamkeiten. Manchmal sind es nur Kleinigkeiten, wie fünf ‚Fingernägel‘, die uns deutlich machen, dass wir öfters auf die verbindenden Elemente schauen sollte als nach trennenden Unterschieden zu forschen. Mensch und Tier sind gleichermaßen Teil der Natur, doch es ist die Aufgabe der Menschen, dafür Sorge zu tragen, dass dieses Naturparadies auch für kommende Generationen bewahrt wird.
Nach vielen Wochen eindringlicher Erlebnisse im Südpolarmeer frage ich mich zum wiederholten Male, warum wir der Natur nicht überall auf der Welt ungeachtet des individuell beigemessenen Wertes von Tier- und Pflanzenwelt den Respekt zollen, die sie verdient? Fakt ist, wir brauchen die Natur, aber sie braucht uns nicht. Die Antarktis als Weltnaturerbe der Menschen zu erhalten, hat höchste Priorität. Das wird mir gerade in dem einzigartiges Natur- und Tierparadies der weltabgeschiedenen Insel Südgeorgien jeden Tag aufs Neue bewusst. Die Verantwortung, die wir Menschen hier zum Schutz der Umwelt gerne und freiwillig übernehmen, sollte als Beispiel für viele weitere Weltnaturparks dienen.
Ich werde auf jeden Fall nach Süd-Georgien zurückkehren, sobald Corona das Reisen wieder zulässt. Außerdem muss ich unbedingt meine gefiederten Freunde wiedersehen, so kitschig das auch klingen mag. Sie sind mir so ans Herz gewachsen. Aufgrund der Farbgleichheit scheinen sie mich ohnehin für einen der ihren zu halten. Es ist also gleichermaßen eine Mensch- und Tierpatenschaft.
Was könnte man tun, in Süd-Georgien, wo sich jedem Besucher eine äußerst spektakuläre Landschaft mit einer eindrucksvollen Bergkulisse von hoch aufragenden, schneebedeckten Bergen und Gletschern vor unwirklich grünen Tussock-Gräsern offenbart? Welchen Beitrag könnte man leisten, um das grandiose Panorama mit seiner bemerkenswerten Tierwelt nicht nur zu bestaunen und zu genießen? Die zerklüftete und zumeist von Eis bedeckte Landschaft der Hauptinsel Südgeorgien ist rund 160 Kilometer lang. Dieses Eiland mit einem kleinen Team einmal der Länge nach zu Fuß zu durchqueren, wäre ein wahrer Traum. Die Weltabgeschiedenheit und das unwirtliche Klima würden für mich mehr als nur eine willkommene Herausforderung darstellen. Es wäre eine Tour, die mich an die Grenzen meiner Leistungsfähigkeit bringen würde. Was für eine faszinierende Vorstellung.
Aber sie böte auch die einmalige Chance, gezielter Landschaft, Flora und Fauna zu studieren. Die Dokumentation könnte für mehr Aufmerksamkeit für dieses bedrohte Paradies sorgen. Vielleicht könnte es ein echter ‚Charity Walk‘ werden, um mit den gesammelten Geldern zur zielgerechten Erhaltung dieses einzigartigen Naturparadieses – zum Beispiel in Form verbesserter Schutzzonen – beizutragen. Das wäre ein echter Ansporn.