DIE EISENFRESSER VON CHITTAGONG

Unsere globalisierte Welt basiert auf internationalem Handel, der großteilig über die Schifffahrtsrouten abgewickelt wird. Wachstum ist das Maß aller Dinge. Um den steigenden Konsumhunger und den immensen Bedarf von Industrie und Wirtschaft an Handelswaren zu decken, brauchen wir immer mehr und immer größere Schiffe. Die Welthandelsflotte besteht derzeit aus gut 50.000 Schiffen: Öltanker, Autotransporter, Stückgutfrachter und Containerschiffe und die Zahl steigt.

Aber wohin damit, wenn die Stahlriesen in die Jahre gekommen sind und durch zu hohe Betriebs- und Versicherungskosten zunehmend unprofitabler werden? Die Antwort ist einfach: entsorgen. Irgendwo, wo es billig ist. Aus den Augen, aus dem Sinn. Vielleicht in Mauretanien oder in Indien. Hauptsache weit weg von unserer Komfortzone. Die Devise lautet Schiffsverschrottung, denn nun haben nur noch Metall, Maschinen und Ausrüstung einen Wert. Außerdem gelten für das fachgerechte Trennen, Ausschlachten und Entsorgen giftiger Materialien wie Asbest, Schwermetalle sowie Dieseltreibstoffe, Rückstände von Maschinenöl, Mischungen toxischer Substanzen aus TBT und PCB und Chemikalien zur Brandbekämpfung – alles Standardelemente von Hochseeschiffen – strenge Bestimmungen. Das bedeutet, offizielle Verschrottung ist sehr teuer. Plan B der Reedereien lautet deshalb: auf nach Asien zur billigen Entsorgung, denn dort entwickelte sich die schmutzige Industrie seit 1969.

Ich hatte von den unvorstellbaren Zuständen der primitiven Schiffsabwrackung gehört und gelesen. Fazit: erschreckend und menschenverachtend. Davon wollte ich mir getrieben von investigativer Neugier selbst ein Bild machen und reiste in den Süden von Bangladesh, in die Vier-Millionen-Stadt Chittagong. Dort, in den Abwrackwerften von Faujdarhat, nördlich des Wirtschaftszentrums am Golf von Bengalen, werden ca. 30 bis 40 Prozent der jährlich etwa siebenhundert weltweit ausrangierten Hochseeschiffe von Schwärmen von Billiglohn-Arbeitern mit Schneidbrennern in bewegliche Stücke und Einzelteile zerlegt. Zwischen Bhatiara und Sitakunda sind mehr als siebzig Unternehmen mit dem Abwracken beschäftigt. Man schätzt, dass etwa 150.000 Menschen direkt von der Schiffsverschrottung leben.

Foto: Mike Hettwer

Am Straßenrand Chittagongs türmen sich alle verwertbaren Teile der Schiffe und alle ausgebauten Ausrüstungsgegenstände, wie zum Beispiel Antriebsaggregate, Batterien, Generatoren, Rohrstücke oder kilometerlange Kupferleitungen. Manche Händler haben sich auf Schiffsschrauben spezialisiert oder Mannschaftskojen, Bullaugen, Rettungsboote und elektronische Anzeigeinstrumente der Brücken. Andere wiederum handeln nur mit Holztüren und Betten aus Mahagoni oder Kücheneinrichtungen aus Edelstahl. Abertausende einschlägiger Produkte liegen wohlsortiert oder in wilden Haufen im Dreck und warten auf neue Besitzer. Der Wert eines durchschnittlichen Abwrackschiffes kann bis zu einer Million Dollar betragen. Dieser theoretische Profit setzt jedoch voraus, dass mehr als 90 Prozent jedes Schiffes wiederverwertet werden. Doch ich will genau wissen, woher all dies stammt.

Eine Dokumentation dieses extrem schmutzigen und gefährlichen Prozesses ist heutzutage nur schwer möglich. Was früher eine skurrile Touristenattraktion war, ist heute streng verboten. Blickdichte Zäune, hohe Mauern, rostiger Stacheldraht und aggressives Wachpersonal verwehren das Betreten der verseuchten Strände. Fotografieren ist überall verboten. Der Grund für die rigorose Abschottung ist einfach: katastrophale Arbeitsbedingungen, Umgehung sämtlicher Sicherheitsbestimmungen, Verletzung aller vorstellbaren Umweltschutzauflagen und kaum Kontrollen. So leicht lasse ich mich nicht abschrecken und miete zusammen mit meinem Reisepartner Peter ein ausgedientes Rettungsboot, um das bizarre Treiben ungestört von der Meeresseite aus zu betrachten.

Aufgeregt umkurven wir dutzende von ausrangierten Ozeanriesen und fahren so dicht es geht entlang der von Seepocken überzogenen Rümpfen und den gewaltigen Schiffsschrauben. Über uns ragen die teilzerlegten Aufbauten wie Wolkenkratzer nach einem Bombenangriff auf. Es ist bizarr, zu sehen, wie gigantische Rümpfe in hausgroße Einzelteile zerlegt und segmentartig zersägt werden. Sobald die Frachter ihrer Stahlhaut entledigt wurden, wird das Innere der Schiffe sichtbar und man kann tief in die schwarzen Höhlen der Laderäume, Kabinen oder Brücken blicken. Die Stahlskelette wirken fast wie abstrakte Kunstwerke. Man hat das Gefühl, den Schiffen würden die Eingeweide herausgerissen, aber die Dimensionen lassen sich kaum in Worte fassen.

Der beissende Geruch von Diesel hängt in der Luft. Das faulige Wasser schillert von den Ölteppichen. Erbarmungswürdiges Kreischen von Kreissägen und die durchdringenden Schläge auf Metall schmerzen in unseren Ohren. Funken sprühen. Undefinierbares Schreien. Schemenhaft erkennen wir ölverschmierte Menschen in abgewetzten T-Shirts, Shorts und Badelatschen, die ohne Atemschutzmasken, ohne Schutzbrillen, ohne Helme und ohne Handschuhe mit schweren, scharfen Metallstücken hantieren, schweissen und ungesichert an den haushohen, aufgesägten Decks herumturnen. Sie sehen aus wie Spielzeugfiguren und ihre Silhouetten verschwimmen im Dunstschleier und schwarzen Qualm.

Auf dem tief verschlammten, mit Metallteilen übersäten Boden zerren dutzende von meist barfüßigen Männern an armdicken Seilen und Kabeln, um abgetrennte Metallelemente ohne jegliche Hilfsmittel weiter ins Trockene zu ziehen. Am Ufer werden sie noch weiter zerlegt, dann eingeschmolzen und zu Betonstahl für die Baustellen verarbeitet. Der Anblick dieser lebensgefährlichen Knochenarbeit ist erbarmungswürdig. Kinderarbeit ist zwar offiziell verboten, doch unser Bootsführer bestätigt, dass hunderte von Kindern aus mit Armut bedrohten Familien in den Werften arbeiten.

Foto: Mike Hettwer

Selbst der zeitlich begrenzte Anblick, der uns auf sicherer Distanz auf die ausgeweideten Schiffskörper gewährt wurde, lässt das unkalkulierbare Arbeitsrisiko der Abwrackexperten erahnen. Der eigentliche Schiffsfriedhof fordert menschlichen Tribut. Grässliche Unfälle sind an der Tagesordnung. Arbeiter werden von herabfallenden Stahltrümmern erschlagen, von Explosionen getroffen, vergiftet und durch Chemikalien kontaminiert. Sie ersticken im ungelüfteten Inneren der Schiffbäuche oder stürzen von den ungesicherten Bereichen der stählernen Hüllen dutzende von Metern in die Tiefe. Die Zahl der Opfer geht in die tausende.

Foto: Mike Hettwer

Natürlich ist mir bewusst, dass die Abwrackindustrie in Bangladesh zahllose Arbeitsplätze garantiert. Aber der reiche Westen entsorgt seine Altlasten wissentlich auf Kosten der Gesundheit der Ärmsten der Armen und auf dem Rücken unserer geschundenen Erde.

Shaheen Dill-Riaz hat in seinem Dokumentarfilm Eisenfresser aus dem Jahre 2007 die Umweltsituation und die Arbeitsbedingungen eindringlich dargestellt: http://www.eisenfresser-film.de/Trailer.html. Es ist zum Fremdschämen. Die Schwerstarbeit muss sauberer und sicherer werden und es wird Zeit, auch in diesem Bereich Verantwortung für unseren Wohlstand zu übernehmen.