AUF MAILLARTS SPUREN REISEN NACH WEST-CHINA
Ihren letzten Blogbeitrag widmete Birgit einem echten Klassiker der Reiseliteratur. Die ‚Verbotene Reise‘ schildert die abenteuerliche Reise von China nach Indien, die Ella Maillart (1903 – 1997) im Jahr 1935 mit ihrem Partner Peter Fleming unternahm. Das Fotos zeigt die rüstige Schweizerin 1984 im Alter von 81 Jahren.
55 Jahre, nachdem Ella Maillart ihre legendäre Reise von Peking nach Kashmir absolviert hatte, wurde auch ich von dem Virus Zentralasiens befallen. Zwischen 1989 und 1999 unternahm ich sieben Expeditionsreisen in den tibetischen Kulturraum, die mit insgesamt sieben Monaten genauso lang dauerten, wie die Durchquerung Chinas durch Maillart und Fleming. Auf fünf der Reisen begleitete mich meine Freundin Andrea, mit der ich mittlerweile 25 Jahre verheiratet bin. Die Wegstrecke von drei dieser Reisen ist fast identisch mit der Route, die Ella Maillart 1935 gewählt hatte (schwarze Linie auf der Karte unten). Eine erstaunliche Parallelität, die so ursprünglich gar nicht geplant war.
Der Plan entwickelte sich 1986, nachdem ich kurz nach der Tschernobyl-Katastrophe mit dem Bus von München über die Kaukasus-Ausläufer nach Delhi in Indien fuhr und so Asien auf dem Landweg erreichen konnte. Die Vorstellung, an diesen klassisches Hippie-Trail anzuknüpfen und sogar den Himalaya zu überqueren, beflügelte meine Fantasie. Während meines Militärdienstes erfuhr ich eher zufällig von der Grenzöffnung zwischen Pakistan und China nahe der afghanischen Grenze. Dadurch wurde der Weg nach Tibet von Westen kommend frei, was die Abenteurer in aller Welt frohlocken ließ. So nutzten auch wir die erstbeste Chance und flogen nach Indien. Von Rawalpindi im Norden Pakistans ging es 1989 mit bunt verzierten Überland-Bussen durch das weltabgeschiedene Hunza-Tal immer weiter die Ausläufer des grandiosen Pamir-Gebirges hinauf Richtung Norden.
Über 1.200 Kilometer schlängelte sich der legendäre, durch permanente Erdrutsche gefährdete Karakorum Highway teilweise entlang des wilden Hindukusch mit seinen atemberaubenden Bergszenerien. Die letzte Passage bis zur Grenze, dem Khunjerab-Paß auf 4.693 Metern Höhe, konnte nur mit Jeeps bewältigt werden. Das Hochgefühl ist kaum zu beschreiben, aber so ähnlich müssen sich auch die frühen Forscher und Entdecker während ihrer Tibet- und Zentralsien-Expeditionen gefühlt haben.
Im Vorfeld meiner eigenen Reisen lasse ich mich gerne durch frühe Forschungs- und Expeditionsreiseberichte inspirieren. Dazu gehören einerseits die Schriften des österreichischen Archäologen Sir Marc Aurel Stein (1862 – 1943). Er leitete im Dienst der indischen Regierung zwischen 1900 und 1930 vier bedeutende Expeditionen nach Innerasien zur Erforschung der Kulturen an der Seidenstraße.
Die wichtigste Entdeckung auf der ersten Expedition 1900 waren die Tarim-Mumien in der Oase von Dandan Oilik in der Taklamakan-Wüste. Während der zweiten Expedition 1907 fand er in den Mogao-Grotten bei Dunhuang eine im Jahr 868 in China im Holztafeldruck hergestellte Ausgabe des buddhistischen Diamant-Sutras. Dieses älteste mit Sicherheit datierte Buchdruckerzeugniss der Menschheit – fast 600 Jahre vor Gutenberg! – ist für jemanden, der wie ich noch im Buchdruck gelernt hat, von besonderer Bedeutung. Deshalb besuchte ich 1992 selbst die Höhlen bei Dunhuang, um vor Ort zumindest eine Kopie des berühmten Blattes bestaunen zu dürfen.
Doch fühlte ich mich bisweilen auch wie ein junger Sven Hedin (1865 – 1952), dem berühmtesten schwedischen Geografen, Fotografen und Reiseschriftsteller. In vier waghalsigen Zentralasien-Expeditionen kartierte und erforschte er die bis dahin unerforschten Gebirge und Wüstengebiete von Chinesisch-Turkestan (heute Xinjiang) und Tibet. Zwischen 1894 und 1908 entdeckte er u.A. die Quellen der Flüsse Brahmaputra und Indus. Die eigenen Veröffentlichungen von Sven Hedin umfassen etwa 30.000 Seiten, was eine schier unglaubliche Lebensleistung darstellt.
Von der pakistanischen Grenze fuhren wir damals wie Ella Maillart über die chinesische Ortschaft Tashkurgan in der Provinz Xinjiang bis zur Oasenstadt Kashgar – 1.500 Jahre lang einer der wichtigsten Handelsknotenpunkt der Seidenstraße. Der Besuch der kulturhistorisch bedeutendsten islamischen Stadt Zentralasiens und seines berühmten Sonntagsmarktes, der nicht nur für mich als einer der großartigsten und faszinierendsten Märkte der Welt gilt, hat mich so nachhaltig beeindruckt, dass ich beschloss, diese Region auch zukünftig näher zu erkunden.
Drei Jahre später konkretisierten sich die Pläne. Während unserer Auslandssemester an der Hochschule für Maschinenbau in Xian, 1992, nutzten wir jede sich uns bietende Gelegenheit, um das damals noch völlig untouristische China als Low-Budget-Backpacker mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu bereisen. Xian – weltbekannt durch die Fundstätte der Terracotta-Armee – ist der Beginn der Seidenstraße und genau die wollten wir möglichst intensiv bereisen.
Das war formal nur durch offizielle Papiere, zweisprachige Visitenkarten mit einem ‚richtigen‘ chinesischen Namen möglich. Bis heute heiße ich in China offiziell ‚Luo Litian‘, die ‚Kraft des Himmels‘, was auch in meinem chinesischen Personalausweis verzeichnet ist. Unsere ordentlichen Mandarin-Kenntnisse halfen uns dazu, manch bürokratische Hürden zu nehmen, auch durch geschlossene Gebiete reisen zu dürfen und in Herbergen abzusteigen, die eigentlich nur für Chinesen zugänglich waren.
Wir wollten in den äußersten Westen des Landes, nach Turkestan, um Kashgar dieses Mal von Osten aus zu erreichen und nahtlos an unsere Tour von 1989 anzuknüpfen. Preisgünstiges Reisen in China finden überwiegend per Bahn statt. Durch die unglaubliche Entfernung bis zur Provinzhauptstadt Urumqi benötigt man allein vier Tage und Nächte. Bahnfahren in China reichen vom herrlich entspannten Reisen in bequemen Abteilen zusammen mit extrem freundlichen und neugierigen Einheimischen im ‚Hard Sleeper‘ bis zu endlosen Stunden und Tagen in unsäglich kalten, lauten, unbequemen und verdreckten Abteilen in der billigsten Zug-Kategorie, da keine anderen Plätze mehr verfügbar waren.
Mein erklärtes Ziel war, das Tarimbecken und die Taklamakan, die zweitgrößte Sandwüste der Erde, auf der Südroute zu umrunden. Der uighurische Name bedeutet in etwa ‚Wüste des Todes‘. Andrea war alles andere als begeistert, aber sie machte klaglos mit und zu zweit meisterten wir zuverlässig alle Probleme. Die Südroute mit seinen über hundert Meter hoch aufragenden Sandwüsten war für Ausländer offiziell gesperrt, was auch daran lag, dass man das chinesische Kernwaffentestgelände Lop Nor passierte. Nur durch viel Glück, Penetranz und unsere chinesischen Ausweise wurde uns die Fahrt auf LKW-Ladeflächen und sehr rudimentären Bussen gestattet.
Die beiden Abenteurer Maillart und Fleming reisten 1935 vom chinesischen Kashgar weiter nach Kashmir in Indien, was uns Jahrzehnte spätere leider durch die Grenzkonflikte im Norden Pakistans verwehrt wurde. Doch wir wollten nicht klein beigeben und kamen von Kashmir im Süden und orientierten uns Richtung Tibet. Wir starteten unsere Tour in dem wunderschönen Srinagar, um von dort aus Leh, die alte Hauptstadt des tibetischen Ladakh, mit seinem faszinierenden Königspalast zu erreichen. Hier bekam der ‚Mythos Tibet‘, als ebenso schwer erreichbares wie von Sagen umwobenes Land auf dem ‚Dach der Welt‘ ein Gesicht. Wir fühlten uns wie in einer Zeitkapsel gefangen, denn seit dem Mittelalter schien sich in Ladakh gemäß alter Reiseberichte nicht groß weiterentwickelt zu haben.
Der größte Teil der 400 Kilometer langen, nur im Sommer einspurig befahrbaren Piste, verlief durch extremes Gebirge in 4.000 Metern Höhe und folgte der historischen Handelsroute entlang des Indus. Landschaftlich, historisch und kulturell war der unbefestigte Highway einzigartig und zählt auch heute immer noch zu den abenteuerlichsten und gefährlichsten Straßenverbindungen der Welt. Unser indisches ‚Hindustan Ambassador‘-Taxi von 1978 brachte uns jedoch sicher nach Leh. Trotz aller Extremsituationen, mentalen und körperlichen Herausforderungen haben wir diese drei Reisen als Team erstaunlich gut meistern können und haben damit unsere Partnerschaft, die seit 35 Jahren bestand hat, entscheidend gefestigt.
Nur wenige andere Westler hatten vor drei Jahrzehnten die seltene Chance, diese abgeschiedenen Gegenden und überwältigenden Landschaften Tibets auf so individuelle Art bereisen zu dürfen. Die Begegnung mit der traditionellen Kultur der ethnischen Minderheiten in Nord-Pakistan, West-Chinas und dem tibetischen Teil Indiens fasziniert mich wie eh und je. Bis auf die modernen Verkehrsmittel dürfte sich die Ursprünglichkeit dieser Gegend seit Ella Maillarts Aufenthalt kaum verändert haben. Doch beneide ich sie gerade um die Beschwerlichkeit ihrer Reise, die allen Strapazen zum Trotz den wahren Expeditions- und Entdeckergeist auszeichnet. Mein Respekt und meine Bewunderung gilt ihrer Neugier, ihrem Mut und ihrem unbedingten Willen zum Erfolg. Chapeau für eine ganz besondere Reiseleistung und eine außergewöhnliche Frau.