Gut zu Fuss – Portrait besonderer Körperteile
Der phänomenale Blaufußtölpel, Thema meines letzten Blogs, hat mich dazu inspiriert, mich gezielter dem menschlichen Fuß zu widmen. In der Alltagssprache ist er allgegenwärtig: wir wollen irgendwo Fuß fassen oder zumindest einen Fuß in die Tür bekommen. Viele würden gerne auf großem Fuß leben, doch werden sie auf dem falschen Fuß erwischt. Im Liebes- oder Geschäftsleben kann man kalte Füße bekommen oder mit Widersachern auf Kriegsfuß stehen. All diesen so geläufigen Redewendungen zum Trotz, machen wir uns selten bewusst, mit welch wunderbaren Körperteilen wir gesegnet wurden, die – bei entsprechender Hingabe oder zumindest pfleglichem Umgang – dafür sorgen, dass wir immer gut zu Fuß sind. Ich bin da leider keine Ausnahme und nehme meine Füße als Selbstverständlichkeit war, die immer funktionieren müssen. Schauen wir einfach mal etwas näher hin, worauf wir im Leben stehen und womit wir gehen.
Der Sommer steht vor der Tür und ich freue mich schon darauf, die Winterkleidung in den Schrank zu verbannen und die Sonne sommerlich bekleidet zu genießen. Ob am Strand oder im Freibad, im Park oder auch zu Hause: Barfüßigkeit ist ein nicht unwichtiger Teil eines hüllenlosen Freiheitsgefühls. Natürlich wollen wir alle gut aussehen und uns entsprechend vorteilhaft präsentieren. Die Füße sind Teil dieses Wohlfühlfaktors der Selbstdarstellung. Also wird nicht nur gewaschen, Schrunden, Hühneraugen und Hornhaut entfernt, Fußpilz bekämpft und Nägel in Form gebracht, sondern Zeit und Geld in professionelle Pediküre investiert. Es wird mit Henna bemalt, tätowiert, lackiert und beringt.
Nackte, ebenmäßige Füße in perfekter Optik sind sichtbarer Teil unserer Persönlichkeit, ein ästhetisches Aushängeschild im Sommer, eine Art visuelle Visitenkarte beim Barfußgehen. Die Ergebnisse dieser Bemühungen – ob schlicht oder opulent – können sich durchaus sehen lassen. Ich sollte mir ein Beispiel daran nehmen, mehr auf eigene schöne Füße zu achten und nicht nur die Eye-Catcher anderer Menschen zu bewundern. Wie sollten jedoch auch bedenken, dass Fußpflege ein Luxus ist, den sich Millionen von Menschen in aller Welt nicht mal ansatzweise leisten können. Umso bewusster und empfindsamer sollten wir alle mit diesen Teilen unseres Körpers umgehen.
Unsere Füße sind weitaus mehr als nur zwei stabile Stützen, auf denen unser gesamtes Körpergewicht plattformgleich ruht. Kaum jemand denkt darüber nach, welche Tortur wir unseren Füßen jeden Tag zumuten. Denken wir nur an viel zu enge Schuhe, in die wir unsere armen Füße oftmals aus profanen Designaspekten hineinquetschen. Ein Leben lang tragen Füße selbst den bequemsten Zeitgenossen täglich tausende Schritte zuverlässig durch den Alltag. Wir gehen, rennen, springen, tanzen und balancieren auf ihnen. Unsere Füße leisten dabei Schwerstarbeit. warum nur machen wir uns das nicht klar und kümmern uns um sie. Anders als Hände, werden Füße unfairerweise immer noch stiefkindlich behandelt.
Der Fotokünstler Akash aus Bangladesh hat die Füße der einfachen Arbeiter seines Landes überaus eindrucksvoll in Szene gesetzt. Ich betrachte diese ausdrucksstarken Portraits immer wieder und stelle mir die Schicksale der Menschen und ihre schwierigen Lebens- und Arbeitsverhältnisse vor. Wie viele Jahre muss ein Mensch seine Füße unter unsäglichen Verhältnissen geschunden haben, damit sie so aussehen? Diese eindringlichen Fotodokumente sind eine deutliche Anklage gegen ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, die uns nicht nur nachdenklich machen, sondern zum Handeln zwingen sollten. Ich war zwar wiederholt in Bangladesh, werde jedoch zukünftig die Menschen, ihre Füße und die ambivalenten Lebensverhältnisse in dem südost-asiatischen Entwicklungsland mit anderen Augen sehen und damit auch die Selbstverständlichkeit, auf eigenen nicht nur schönen, sondern auch gesunden Füßen zu stehen, in Frage stellen.
Vor ein paar Jahren war ich auf herausfordernder Trekkingtour in Kamerun. An der Grenze zu Nigeria im abgelegenen Alantika-Gebirge trafen wir auf die faszinierende Ethnie der Koma, die sich ihre animistischen Gebräuche bis heute bewahren konnte. Meine Füße hatten vom stundenlagen Laufen stark gelitten und schmerzten. Ich befreite sie mit leichtem Stöhnen aus ihrem übel riechenden Stiefelgefängnis und gab ihnen Raum und Luft zum Atmen. Mein Jammern verstummte aber ganz schnell, als ich einen Blick auf die Füße unseres Gastgebers warf. So etwas hatte ich zuvor noch nie gesehen. Einen größeren Kontrast zu unserer Vorstellung schöner Füße kann es nicht geben, doch bei den Koma schien diese Optik ganz normal zu sein.
Was kann man seinem Körper alles zumuten? Welchen extremen Herausforderungen sind die menschlichen Füße so offensichtlich ausgezeichnet gewachsen? Wie vereint sich das eigentlich filigrane Konstrukt aus Knochen, Sehnen, Muskeln und Nerven mit einer so robusten Anatomie? Wie belastungsfähig sind unsere Körper generell? Ich finde es erstaunlich, zu was für fundamentalen Erkenntnissen man erst am gefühlten „Ende der Welt“ gelangt. Vermutlich werden sich die Koma derartige Fragen nie stellen. Wozu auch? Für sie ist Fußpflege ein überflüssiger Luxus und mit den gesundheitlichen Folgen fehlender Pflege findet man sich einfach ab.
Wahrscheinlich wissen die Koma, so wie auch Millionen anderer Menschen gar nicht, dass unsere Füße ein vollkommen unterschätztes Wunderwerk der menschlichen Anatomie und Meisterwerke der Evolution sind. In ihnen befinden sich mehr Sinneszellen als in unserem Gesicht, was in fundamentalem Gegensatz zur gefühlten Bedeutung steht. Denken wir allein an die wichtigsten Akupunktur-Stellen, die dort unten zusammenlaufen. Unsere Füße sorgen für Stütze, Gleichgewicht und Beweglichkeit und wir verdanken ihnen unseren aufrechten Gang. Unser gesamtes Körpergewicht lagert nur noch auf zwei Füßen und diese müssen alles aufnehmen, was ursprünglich auf vier Pfoten verteilt wurde. Der Körperschwerpunkt und unsere Fortbewegung hat sich dadurch vollständig verlagert. Als ich mir das klar gemacht habe, schaute ich unwillkürlich an mir herunter und zog gedanklich den Hut.
Äußerst spannend finde ich den Hintergrund des Ausdrucks „jemanden auf die Füße treten“. Das hat guten Grund, denn unsere Füße sind beeindruckend komplex konstruiert. Hätten Sie gewusst oder auch nur gedacht, dass das Skelett des Fußes aus 26 Knochen besteht, was einem Viertel aller Knochen unseres Körpers entspricht? Dazu kommen beinahe 30 Gelenke, 60 Muskeln, mehr als 100 Bänder und 214 Sehnen. Ich habe Schwierigkeiten, mir vorzustellen, wie all diese ausgeklügelten Komponenten auf so engem Raum perfekt zusammenarbeiten. Noch dazu ist jedes kleine Einzelteil dauerhaft im Einsatz und erst das ermöglicht uns eine so weiche und flexible Beweglichkeit. Warum nur schenken wir unseren Füßen nicht die Aufmerksamkeit, die sie wirklich verdienen?
Vor über dreißig Jahren, Ende der 1980er Jahre, bereiste ich erstmals China. Dort traf ich vor allem in ländlichen Gebieten noch ziemlich regelmäßig auf alte Frauen, die gebückt und an Gehstöcken schlurften und trippelten. Von diesen sogenannten „Lotus-Füßen“ hatte ich schon früher gehört und gelesen und ich war begierig, mir selbst ein Bild davon machen zu können. Ihre deformierten, miniaturartigen Füße und die Historie dieses unvorstellbaren Brauches haben mich schon damals angewidert, aber auch gleichzeitig stark fasziniert. Ich muss gestehen, ich habe regelrecht Ausschau nach diesen armen Frauen gehalten, die Opfer eines perfiden Brauches wurden. Eine Geliebte des chinesischen Kaisers Li Houzhu soll sich im 10. Jahrhundert die Füße bis zur Deformation bandagiert haben. Doch dieser Ausdruck verfälscht völlig die Realität.
Konkret bedeutete das nämlich, der gesamte vordere Teil des Fußes wurde gebrochen und samt Zehen brutal nach unten gequetscht. Die Vorstellung allein bereitet mir unsägliche Schmerzen. Wie muss es dann erst den Frauen ergangen sein, die das seit ihrer Kindheit jeden einzelnen Tag erdulden mussten? Seit damals galten winzige, verkrüppelte Frauenfüße in den höheren chinesischen Schichten als Schönheitsideal – was für eine Perversion. Normales Gehen wurde unmöglich und fürchterlich schmerzhaft und die gequälten Frauen wurden durch ihre stark eingeschränkte Bewegungsfähigkeit ans Haus gebunden. Sie waren ihr Leben lang abhängig von einem Ehemann oder Gönner. Erst im Jahr 1911 wurde dieser sinnlose, körper- und geistverletzende Brauch offiziell gesetzlich verboten. Eine kulturhistorische Kuriosität ist damit zwar verloren gegangen, aber in diesem Fall ist der Fortschritt meines Erachtens eine wahre Segnung.
Manch einer mag es als erniedrigend betrachten, wenn man jemanden – wortwörtlich genommen – die Füße küsst. Man kann diesen Vorgang jedoch auch als ein religiöses Ritual ansehen, das ein wichtiges Zeichen setzt. Unter konservativen Katholiken löste Papst Franziskus unlängst eine breite Diskussion aus, als er vor wenigen Jahren einigen Frauen beim österlichen Abendmahl die Füße wusch. Die Liturgie sieht eigentlich vor, dass nur Männern diese Geste der Demut widerfahren darf. Doch die Kirche wandelt sich und seit Kurzem sind als Zeichen der Gleichberechtigung auch Frauen zur Fußwaschung zugelassen.
Bei einem Besuch einer Flüchtlingsunterkunft hat sich Papst Franziskus vor zwölf Frauen und Männern niedergekniet, ihre Füße gewaschen und sie geküsst. Unter diesen Auserwählten waren Menschen aus Afrika, Asien und Europa, außerdem waren drei Muslime und ein Hindu dabei. Der Papst hat also nicht nur Christen die große Ehre erwiesen, sondern auch Menschen anderen Glaubens. Ich empfinde das nicht nur als große Zuneigungsgeste, sondern als ein nachahmungswertes Symbol für eine bessere Welt ohne Grenzen, losgelöst von allen Religionen.
Seit Jahrzehnten reise ich nach Asien und speziell dort genießen Füße besondere Hochachtung. Wer in Südost-Asien unterwegs ist, wird sich auf jeden Fall auch die großen Buddha-Statuen ansehen, die zu wichtigen Sehenswürdigkeiten zählen. Die Füße dieser Figuren werden nicht nur exponiert präsentiert, sondern wurden auch künstlerisch besonders aufwändig gestaltet. Das Motiv des Fußes kündet dabei von der Präsenz des Erleuchteten. Ein wunderbares Beispiel hierfür bietet der riesige Fußabdruck des Shwethalyaung-Buddhas in Bago, Myanmar. Sein Anblick soll die gläubigen Buddhisten zu spiritueller Einkehr bewegen. Für mich war es zumindest ein faszinierendes Detail, das es wert war, zu erkunden und die Hintergründe nachzulesen.
Ähnliche Erfahrungen machte ich in Thailand. In Bangkoks größtem Buddha-Tempel, dem Wat Pho, ist die größte Attraktion der riesige Buddha mit den stolzen Ausmaßen von 46 Metern Länge und 15 Metern Höhe. Daneben kommt sich jeder Besucher klein vor und das ist auch so gewollt, um den eigenen Platz in der Welt besser zu erkennen. Die Fußsohlen der goldenen Figur (vermutlich aus dem 18.Jh.) zeigen nach Westen und diese sind mit 108 (eine heilige Zahl des Buddhismus) alten Glückssymbolen in Perlmuttarbeit belegt. Kunsthandwerklich und kulturhistorisch sehr eindrucksvoll.
West-Neuguinea zählt seit Jahrzehnten zu meinen präferierten Reisedestinationen. Mein erklärtes Ziel besteht darin, die kaum durchdringbaren Dschungel-, Sumpf- und Bergregionen dieses archaischen Landes nahtlos auf dem Landweg zu durchqueren. Über 1.300 gelaufene Kilometer haben mir, vor allem jedoch meinen Füßen, schon so Einiges abverlangt. 1994 „zierten“ unzählige Bisse, Stiche und Wunden und Infektionen meine Füße. Ich bin überglücklich und dankbar, dass sie mich trotzdem nie im Stich gelassen haben, zumal ich über Wochen auf ihre einwandfreie Funktion angewiesen war.
Obwohl ich mich immer auf sie verlassen konnte, und nun sicher bin, dass ich über außerordentlich belastbare Füße verfüge, war das rein gar nichts im Vergleich zu der Qualität und überragenden Leistungsfähigkeit der überwiegend barfuß laufenden Papuas. Sie bewegen sich sicher und schnell auf ihren unvorstellbar funktional angepassten Wunderwerken. Solche Füße – sowohl optisch als auch in Aktion – hatte ich zuvor noch nie gesehen.
Ihre breiten Füße mit den weit abstehenden großen Zehen nutzen sie krallen- oder klauengleich zum systematischen Greifen, Festklammern und Haltfinden auf glitschigen Baumstämmen und im dichtesten Unterholz. Sie nutzen ihre Füße mit derselben Selbstverständlichkeit wie wir unser Hände. Einfach phänomenal! Dies ermöglichen die feinen Sinnesorgane an den Spitzen der Zehen und tausende von Nervenenden und Sensoren an den Sohlen. Die bemerkenswerte Geschicklichkeit und scheinbare Unempfindlichkeit der Papua-Füße im anspruchsvollsten Gelände und auf härtestem Untergrund imponiert mir seit meinem ersten Tag in Neuguinea.
Welch eine Kontrast, wenn man dann einen kurzen Blick auf das Thema Podophilie (Fußliebe) wirft. Sicherlich, unsere Füße verdienen Liebe und Zuneigung. Extrem äußert sich diese Hingabe bei Menschen mit einem Fußfetisch, die Füßen nur zu gern eine Extraportion an ungeteilter Aufmerksamkeit geben würden und sich sogar sexuell zu ihnen hingezogen fühlen. Diese reicht von Erniedrigung bis Dominanz. Ob schmutzig und stark riechend bis wohlduftend und perfekt in Szene gesetzt – die Spielarten der Podophilie sind mannigfaltig. Ich muss lachen, wenn ich mir einen Papua vorstelle, der das liest und die entsprechenden Bilder dazu sieht. Es gibt eben keine Normalität auf der Welt und im Leben.
1989 kam ich von einer ziemlich laufintensiven Reise nach Indien und China zurück. Dann sah ich das Oskar-gekrönte Filmdrama „Mein linker Fuß“ mit Daniel Day-Lewis in der Rolle des schwerbehinderten Christy Brown (1932-1981) und war gleichermaßen geschockt, fasziniert und begeistert. Die Verfilmung des gleichnamigen autobiografischen Romans von Christy Brown (1954) schildert mit nahezu dokumentarischer Genauigkeit, dass ein Mensch mit schierer Willenskraft nahezu alle körperlichen Grenzen überschreiten und kaum vorstellbare Fähigkeiten entwickeln kann. Trotz fast vollständiger Lähmung avanciert Brown mittels seiner als Malwerkzeug genutzten Zehen zu einem anerkannten Maler. Eine absolut irre wahre Geschichte!
Wohl jeder kennt die Südtiroler Bergsteiger-Legende Reinhold Messner, den Bezwinger aller 14 Achttauender. Seine Gefühle in Extremsituationen hat er in dutzenden Büchern beschrieben und in den wichtigsten Talkshows der Republik kundgetan, aber eines hat Reinhold Messner 36 Jahre lang verheimlicht: den Zustand seiner Füße, die ihn so weit trugen.
In der November-Ausgabe des Magazins „National Geographic“ von 2006 wurde erstmals ein Bild von Reinhold Messners verstümmelten Füßen veröffentlicht und die Welt war schockiert. Wegen zu geringer Durchblutung während seiner ersten Himalaya-Expedition 1970 zum 8.125 Meter hohen Nanga Parbat in Nordpakistan waren sieben Zehen abgestorben. Messner musste nach der traumatischen Expedition in ein Krankenhaus am Fuße des Himalayas, wo die Amputationen durchgeführt wurden. Der schwer erträgliche Anblick dieser Füße symbolisiert das Leben eines extremen Menschen, der trotz oder gerade wegen aller Strapazen und bestandenen Gefahren stets die grenzenlose Zuversicht eines Überlebenden ausstrahlt. Bei aller Abenteuerliebe wäre mir ein Expeditionserfolg nicht den Verlust so wichtiger Körperteilen wert. Insofern hoffe ich noch viele tausend Kilometer laufen zu können oder eben, soweit mich die Füße tragen.
Der Mensch ist erstaunlich und genauso erstaunlich ist seine Entwicklung. Wer könnte sich so ohne weiteres vorstellen, dass aus den niedlichen kleinen Füßchen, mit denen jeder von uns auf die Welt kommt, unter Umständen solche geschundenen Gehwerkzeuge werden?