Spitzbergen, Ocean Plastic und die Kunst
Vor wenigen Tagen bin ich aus Spitzbergen zurückgekehrt. Fernab der Zivilisation erwarten den neugierigen Besucher grandiose Fjorde, gewaltige Gletscher, zerklüftete Berge und berstende Packeisflächen, die bis zum Horizont reichen. Das Archipel beheimatet mehr Eisbären als Einwohner und bis zum Nordpol sind es nur noch gut tausend Kilometer. Die endlose Weite, die ohrenbetäubende Stille und die glasklare Luft machen einen Aufenthalt zu einem einzigartigen Erlebnis für alle Sinne. Die unbeschreibliche Farbvielfalt der Tundra-Landschaft auf der abgelegenen Inselgruppe im Nordpolarmeer lassen mich ehrfürchtig staunen.
Direkt vor mir, im grauen Kies, erregt ein kleines buntes Etwas meine Aufmerksamkeit. Es ist ein gelber Flaschendeckel. Das ist nicht nur irgendein Fremdkörper – es ist ein Beweisstück mit hoher Symbolkraft, dass maritimer Plastikmüll selbst in die am weitesten von der Zivilisation entfernten Orte vorgedrungen ist. Innerhalb weniger Minuten füllen sich meine Taschen mit einem bunten Sammelsurium von Verpackungssteilen, Spielzeugresten, Fischereiutensilien und sonstigen Kunststoffabfällen. Mein persönliches Beach-Clean-Projekt.
Ocean Plastic ist ein weltweites Problem, das täglich größer wird, doch ich hätte nie vermutet, dass es mir sogar an einem fast unberührten Sehnsuchtsort wie Spitzbergen begegnen würde. Immer mehr Plastik wird in Umlauf gebracht: ca. 400 Millionen Tonnen Plastik werden jedes Jahr neu produziert, davon laut Bericht des UN-Umweltprogramms werden lediglich ca. 12% verbrannt und nur 9% recycelt. Etwa elf Millionen Tonnen Kunststoffe gelangen jedes Jahr in die Ozeane, wo sie sich ganz langsam in kleinste Teilchen, sogenanntes Mikroplastik, zerreiben.
Zur Begrenzung der globalen Verschmutzung durch Plastik soll es bis Ende 2023 ein international verbindliches Abkommen geben. Das haben Delegierte auf der fünften UN-Umweltversammlung am 2. März 2022 in Nairobi beschlossen. Ein historischer Beschluss! Es gibt viele sinnvolle Maßnahmen, um die Plastikflut zu bremsen: Einwegplastik verbieten, Recyclingquote erhöhen, biologisch abbaubare Kunststoffe fördern – aber das Plastikproblem muss erst einmal ins Bewusstsein der Menschen gelangen. Leider tun sich faktenlastige Dokumentationen, kritische Nachrichtenbeiträge oder zähe Fachpublikationen über Natur und Umwelt oftmals schwer, sich in den Köpfen zu etablieren.
Aber die Kunst findet gelegentlich einen eigenen Weg, um aufzurütteln und zu mahnen. Einen ebenso aufmerksamkeitserregenden wie spannenden Ansatzpunkt hierfür liefert ein bemerkenswertes Kunstprojekt, über das ich ganz zufällig im Frühjahr dieses Jahres auf Madeira gestoßen bin. Direkt an der Hafeneinfahrt von Funchal erwartet den Reisenden eine riesige freistehende Fisch-Skulptur. Es ist eine Installation des portugiesischen Künstlers Bordalo II, der den imposanten Zackenbarsch erstaunlich wirklichkeitsgetreu aus bunten Plastikabfällen gestaltet hat.
1987 in Lissabon geboren, beschreibt der Installationskünstler sich selbst als zu einer Generation gieriger Konsumenten gehörend, die ebenso viel Müll produzieren, wie sie Sachen kaufen. Doch er weiß künstlerisch damit umzugehen und schafft aus ehemaligen Autoteilen, defekten Tastaturen, kaputten Spielzeugen, aufgeschlitzten Schläuchen, alten Schutzhelmen, Nummernschildern und alle Arten von an Land gespülten Verpackungsabfällen großformatige Kunstwerke.
Dabei hat er sich nach anfangs abstrakten Werken heute hauptsächlich auf sehr realistische Tierdarstellungen konzentriert, um beim Betrachter eine höhere Identifikation zu erzielen. Seine Vögel, Echsen, Quallen, Insekten, Säugetiere und auch Fantasiewesen wie Einhörner nennt Bordalo II „Trash Animals“. An der faszinierenden Vielfalt von Farben, Formen, Motiven und Materialien geht niemand achtlos vorbei. Es gibt keine Berührungsängste zu dieser außergewöhnlichen Pop-Art-Kunst. Im Gegenteil, die überdimensionalen, auffälligen Skulpturen laden zum Anfassen ein und lösen nachdenkliche Begeisterung aus.
Als moderne Form der Murals avancieren seine Kreationen an Hausecken in Kombination aus farbenprächtiger und monochromer Gestaltung zu echten Hinguckern. Sie werden weltweite ausgestellt und mittlerweile auch hoch gehandelt.
Bordalo II hat mit seinen fantasievollen Mixed Media-Skulpturen eine neue, volksnahe Kunstform als nahtlosen Übergang zwischen ausdrucksstarker Street Art und Mahnmal geschaffen. Durch seine Upcycling-Plastiken löst er eine fruchtbare Diskussion um Umweltschutz, Ressourcenschonung und Wiederverwertung aus. Kritische Kunst als nonverbale Anklage ist eine von vielen Möglichkeiten, sich dem Thema Ocean Plastic zu widmen, um Menschen zu erreichen, Missstände spielerisch und doch nachhaltig in den Köpfen als Bilder zu implementieren und zum Umdenken und Handeln zu motivieren.