HONG KONG FERNWEH HONG KONG HEIMWEH

Jeden Tag verfolge ich im Fernsehen die neusten Entwicklungen der weltweiten Corona-Pandemie. Von besonderem Interesse ist für mich Hong Kong, meiner zweiten Heimat. Der Grund ist einfach: ich will und muss schnellstens wieder hin. Einerseits gibt es eine berufliche Notwendigkeit, denn wichtige Aufträge meines Unternehmens ROX, das seit 1998 seinen Sitz in Hong Kong hat, verlangen jetzt meine persönliche Anwesenheit. Anderseits liebe ich einfach die Stadt. Ich vermisse das besondere Flair, meine Kollegen und meine Freunde dort.

Hongkong ist bislang auch ohne einen kompletten Lockdown erstaunlich glimpflich durch die Coronavirus-Pandemie gekommen. Rasch umgesetzte Maßnahmen wie das konsequente Tragen von Mundschutz und Kontaktverbote haben die Hongkongnesen fast klaglos hingenommen. Die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen haben weniger Störungen hervorgerufen als eine vollständige Ausgangssperre. Bis zum 31. März meldete die Hongkonger Regierung nur um die tausend Infizierte und lediglich vier Todesfälle. Das ist bei der extrem hohen Bevölkerungsdichte ein kaum zu glaubendes Resultat, was durch die Erfahrungen aus der SARS-Epidemie 2003 begründet wird, da Hong Kong besser für Covid-19 gerüstet sei als die meisten anderen Länder der Welt.

Trotzdem leidet der „Hafen der Düfte“ unter den wirtschaftlichen Folgen: keine Geschäftsbesuche und schon gar kein Tourismus! Die ökonomische Krise trifft die Bewohner der ehemaligen  britischen Kronkolonie besonders hart. Dabei waren die vergangenen Monate ohnehin schon herausfordernd genug. Die Proteste und Ausschreitungen gegen die steigende Einflussnahme Chinas auf den Autonomie-Status von Hong Kong haben in der Stadt gravierende Spuren hinterlassen und die Bevölkerung gespalten. Der Forderung nach mehr Demokratie steht die Furcht vor weiteren Repressalien der chinesischen Zentralregierung in Beijing gegenüber. Das Corona-Virus zeigt einmal mehr, wie abhängig Hong Kong von China ist – und wie verwundbar.

Wer Hong Kong nicht kennt, kann sich diese unglaubliche Vielfalt der Sieben-Millionen-Metropole kaum vorstellen. Einerseits gibt es in Kowloon die am dichtesten besiedelten Wohngebiete der Welt, mit tausenden kleinster Geschäfte und Handwerksbetriebe. Auf der Insel Hong Kong dagegen dominieren dicht an dicht gebaute Hochhäuser mit glitzernden Stahl-Glas-Fassaden und grellen, überdimensionierten Neon-Reklamen, die dem puren Hochkapitalismus ein ultramodernes Gesicht verleihen. Verlässt man jedoch die City und fährt auch nur eine halbe Stunde aus dem völlig überfüllten Zentrum hinaus, findet man erstaunliche viele Refugien von menschenleeren Sandstränden, hunderten von Kilometern an naturbelassenen Wanderwegen und verlassenen, verwunschenen Ortschaften, die vom Dschungel halb überwuchert sind.

Ich habe alle Seiten Hong Kongs intensiv kennen und schätzen gelernt. Von der Omnipräsenz zivilisatorischer Errungenschaften und technologischem Fortschrittsdenken hat mein Unternehmen profitiert und selbst mein Büro stellt ein kleines Puzzlestück in dieser konsumorientierten Mega-City dar. Die Dichte, der Lärm und die Hektik haben mich nie abgeschreckt, sondern eher inspiriert. Als notwendiger Ausgleich zum beruflichen Alltagsstreß in der Innenstadt sorgte schon immer die Entspanntheit und fast meditative Ruhe der ursprünglichen Natur des zweihundert Inseln umfassenden Archipels. Es ist dieser immerwährende Kontrast, der mich seit einem Vierteljahrhundert begeistert und fasziniert.

Ich möchte wieder die grandiose Skyline sehen, mit der längsten Rolltreppe der Welt zu meinem Lieblingsthailänder in den Midlevels fahren und mit der Fähre durch das Gewühl von Dschunken und Hausbooten im Hafen von Aberdeen tuckern. Ich warte nur darauf, in Sheung Wan, dem ältesten Stadtteil der Insel Hong Kong, die kleinen, altmodischen Teeläden zu betreten und ich vermisse den skurilen Blick auf das Kraftwerk von Lamma Island, während ich allein im kühlen Sand sitze.

Natürlich wird Hong Kong nie wieder genauso sein, wie ich es seit meinem letzten Besuch in Erinnerung behalten habe. Aber ich freue mich jetzt schon darauf, wieder durch die engen Gassen in Tsim Sha Tsui voller verlockender Garküchen zu stromern, auch wenn ich dabei einen Mundschutz tragen muss. Ich bekomme allein bei der Vorstellung, wieder stundenlang inmitten urwüchsiger Vegetation in den New Territories ungestört wandern zu gehen, richtig gute Laune. Nur dort kann ich gleichzeitig einen Blick auf dieses unglaubliche Häusermeer werfen, was es in dieser „Architektur der Dichte“, wie der Fotograf Michael Wolf es einmal beschrieb, nur in Hong Kong gibt.

Ich könnte all das sehen und erleben – aber nur theoretisch. Zwar bin ich seit fast zwanzig Jahren Einwohner von Hong Kong mit chinesischem Ausweis, lebenslanger Wohn- und Arbeitsgenehmigung und Wahlberechtigung und dürfte deshalb – anders als ein Tourist – sofort problemlos einreisen, da ich quasi „nach Hause“ kommen würde. Trotzdem müsste ich mich dann für vierzehn Tage in häusliche Quarantäne begeben. Das würde bedeuten, ich wäre isoliert und könnte während dieser zwei Wochen keinen “normalen” Alltag erleben, weder beruflich im Büro noch privat in der Stadt oder draußen auf dem Land. Insofern muss Hong Kong noch etwas warten, so schwer es auch fällt.

Ich werde jedoch akzeptieren müssen, dass Hong Kong nie wieder so sein wird, wie noch vor einem Jahr. Wie wird sich diese Stadt, die sich stets über Enge und Dichte definiert hat, wohl weiterentwickeln? Die schwierigsten Zeiten hat Hong Kong hoffentlich gemeistert. Doch nun muss sich ein „neues“ Hong Kong mit den besonderen Anforderungen an persönliche Distanz langfristig etablieren und den großen Herausforderungen der Zeit nach Corona stellen. Ich weiß nicht, wie es gelingen mag, doch ich bin zuversichtlich.

Im Geiste verknüpfe ich die Vergangenheit – die unvergesslichen Zeiten und die vielen Jahre, die ich dort gewohnt, gearbeitet und mit meiner Familie gelebt habe – mit der ungewissen Zukunft Hong Kongs. Ein spannendes Experiment kommt auf uns zu und ich freue mich darauf, auch in den nächsten zwanzig Jahren beruflich wie auch privat ein Teil davon zu sein.