Berge – Burgen – Balkan-Sehnsucht
Der Lockdown ist zu Ende und die Home Office-Isolation vorbei. Also gehts wieder raus in die Welt! Kurzentschlossen flog ich mit meiner Frau in eines der ganz wenigen Länder, in denen man ohne jegliche Einschränkung reisen und sich drinnen wie draussen frei bewegen kann und nicht mal eine Maske benötigt. Noch dazu ist das Reiseziel an der Adria eines der derzeit spannendsten Länder Europas, was an der jahrzehntelangen politischen Abschottung liegt. Der Doppeladler als Landeswappen prangt auf so manchem ehemaligen Bunker der 37-jährigen Enver Hoxha-Diktatur, was dem Strandambiente zu einer skurrilen Attraktion verhilft.
Schon erraten? Wir erkundeten mit dem Auto Albanien. Karl May nannte es in seinem 1888 erschienenen Orient-Werk das „Land der Skipetaren“, obwohl er selbst nie dort war. Mein Wunsch: einfach wieder einmal in exotischer Region unterwegs zu sein, ohne Zeitvorgabe und ohne festes Routing. Dazu imposante Landschaften erkunden, fremde Kulturen aufsaugen, den Duft der Geschichte schnuppern und vielleicht ein paar kleine Balkan-Abenteuer erleben.
Gjirokastra zählt zu den Top-Sehenswürdigkeiten des Landes, ein „Must-See“, das intensiv zu erkunden ich mich so richtig gefreut habe. Eine der ältesten und kulturell wichtigsten Städte in Südalbanien – seit 2005 zum UNESCO-Welterbe zählend – war wie erwartet überaus beeindruckend. Die einmalige Architektur der osmanischen Wehrturmhäuser aus dem 18. Jahrhundert hatte es mir besonders angetan. Ein Privatbesuch des imposanten, vierstöckigen Zekati-Hauses mit seinem zweiarkadigen Mittelteil und dem markanten, vorspringenden Dach zeichnete sich durch eine überaus positive Aura aus. Wie langweilig nimmt sich dagegen die traditionelle Bauweise des Münsterlandes aus.
Vom blumenumrankten ummauerten Innenhof voller Oleanderblüten ging es in die mit bestickten Kissen und Decken prächtig ausgestatteten Hochzeitsräume im dritten Obergeschoss. Aufwändig geschnitzte und teilvergoldete Einbauschränke und florale Deckenverkleidungen ließen mich sehnsüchtig in die Zeit orientalischen Prunks zu Zeiten Ali Paschas eintauchen. Was für ein großartiges Ambiente, in dem ich mich spontan wohlfühlte.
Der unvergleichliche Blick vom Zekati-Balkon hoch über der Stadt erlaubte einen freien Blick aus der Vogelperspektive auf das Gewirr der Altstadtgassen von Gjirokastra. Genau so hatte ich mir das vorgestellt, gewünscht, erhofft. Noch lange hänge ich meinen Gedanken an die endlosen Stunden des neugierigen Wandelns auf abgewetztem Kopfsteinpflastern in den unglaublich steilen, und verwinkelten Gassen aus dem 14. Jahrhundert nach, begleitet von süßlichen Geruch von Baklava und dem abendlichen Ruf des Muezzins.
Nach so vielen urbanen Erlebnissen suchten wir etwas Entspannung in den Bergen. Auf dem Weg zur Ausgrabungsstätte der Antigonea-Tempelanlage – 295 v. Chr. vom griechischen König Pyrrhus gegründet und nach seiner Frau Antigone benannt – erwartete uns ein völlig unerwartetes Reise-Highlight.
Auf schmalen, unbefestigten Schotterpisten ging es in Serpentinen immer höher durch die einsamen Berge. Die Berghänge waren mit leuchtend gelben Ginsterbüschen übersäht, an denen wir uns kaum sattsehen konnten. In dem kleinen Bergdorf Saraqinishtë, fernab der Hauptstrasse, wollten wir eine kleine Kirche aus dem frühen 17. Jahrhundert besuchen.
Die alte Dorfdurchfahrt war nur für Eselkarren gebaut und so schmal, dass wir unser Auto stehen lassen mussten. Beschilderung? Fehlanzeige. Eine gebückte Bäuerin wies uns wortlos den Weg zum Friedhof am Ende des Bergrückens – landschaftlich spektakulär auf einer Hügelkuppe in den Ausläufern des Lunxhëria-Gebirges gelegen.
Die Sonne brannte und es war ganz still. Niemand war zu sehen. Hinter dem verrosteten Tor eröffnete sich vor uns ein verwunschener Friedhofsgarten mit hüfthohem Gras, das im Wind wog. Ein intensiver Jasminduft lag schwer in der Luft. Wir bahnten uns den Weg vorbei an verwilderten Gräbern. Die friedliche Atmosphäre und die fremdartigen Namen auf den Marmorsteinen mit landestypischen Portraits der Verstorbenen luden zum Verweilen und Nachdenken ein.
Die kleine Kirche aus verwittertem Bruchstein war schon halb überwuchert. Teilweise wurden an der Fassade Quadersteine des antiken Antigonea mit verbaut und wir konnten auf einer Säule sogar Überreste mythologischer illyrischer Darstellungen entdecken. Einzelne Sonnenstrahlen sorgten im Vorraum für seltsames Zwielicht. Die schwere Holztür stand offen und wir betraten eine andere Welt. Das morsche Gebälk knarrte, es war angenehm kühl und ich hatte das Gefühl, die Zeit wäre stehengeblieben.
Die baufälligen Wände waren mit Balken abgestützt und man musste aufpassen, nirgends anzustoßen. Im Dämmerlicht des halb eingestürzten Daches erkannten wir überall an den Wänden und in der kleinen Kuppel wunderschöne Malereien. Die erdigen Farben der spätmittelalterlichen Freskos waren manchmal verblichen oder abgeplatzt, aber teilweise erstaunlich gut erhalten.
Die Shën Mërisë-Kirche ist dem heiligen Nikolaus von Myra geweiht. Er wirkte als Bischof in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts in der kleinasiatischen Region Lykien, damals Teil des römischen, später des byzantinischen Reichs, mittlerweile der Türkei. Die unrestaurierten Abbildungen versprühten einen besonderen Charme, wenngleich der unwiderbringliche Verfall traurig stimmte.
In jedem Winkel gab es neue, aufregende Entdeckungen. Ich war regelrecht im Jagdfieber. Besonders beeindruckend waren die vielen kleinen Holzikonen auf dem wurmzerfressenen Chorgestühl, deren goldene Farben eine fast mystische Stimmung verbreiteten. Es war eine Mischung aus Traurigkeit über den erbarmungswürdigen Zustand der Kirche und die gleichzeitige Bewunderung der morbiden Schönheit von Vergänglichkeit.
Wir hatten zwar erwartet, ein nationales Kulturdenkmal vorzufinden, aber auf ein solches Kleinod zu stoßen, versetzte uns in wahre Begeisterung. Was für eine Entdeckung! Welch herrliches Gefühl! Genau solche Überraschungen zeichnen Albanien aus, wenn man sich abseits der Touristenpfade auf Spurensuche begibt. Europäisches Kulturabenteuer mit Bestnote.