Tshukudus von Goma – Könige der Strassen
Sich mit Mobilität zu beschäftigen, ist in Corona-Zeiten, die das Reisen fast unmöglich machen, eine wahre Herausforderung. Doch die extreme Natur der hier beschriebenen Fahrzeuge verlangt nach einer zeitlosen, detaillierteren Auseinandersetzung. Eigentlich war ich mit Bernd und Peter, meinen Reisepartnern seit 25 Jahren, im Osten der Demokratischen Republik Kongo unterwegs, um den aktiven Vulkan Nyiragongo zu besteigen. Ausgangspunkt für unsere Tour war die Stadt Goma, am nördlichen Ufer des Kivu-Sees. Völlig überraschend wurden wir dort mit den wohl ungewöhnlichsten Gefährten des schwarzen Kontinents konfrontiert, die unserer Reise zu einem weiteren, faszinierenden Höhepunkt verhalfen.
Die vollgestopften Straßen der Millionenstadt werden beherrscht durch Tshukudus – urzeitlich anmutende Lastenroller, die selbst in Afrika absolut einzigartig sind und als Wahrzeichen der Stadt dienen. Durch ein skurriles, vergoldetes Denkmal wurde die Bedeutung der Tshukudus und ihrer Chauffeure – den Tshukudeuren – als ‚Könige von Goma!‘ zum Ausdruck gebracht. Die wahre Herkunft des merkwürdigen Namens ist bis heute ungewiss. In der Kinya-Rwanda-Sprache bezeichnet ‚Tukudo‘ einen ‚Rucksack‘. Möglich wäre auch die lautmalerische Imitation des ‚Tuck-tuck-tuck‘-Geräusches alter Lastwagen. Beide Interpretationen sind für mich schlüssig, wenn einem in der Nähe eines rasenden Tshukudus Hören und Sehen vergeht. Ich habe mich sofort in sie verliebt.
Die Provinzhauptstadt Goma ist trotz der politisch dauerhaft instabilen Sicherheitslage ein wichtiger Handelsknotenpunkt. Um die zahlreiche Lasten wie Holz oder Gemüse aus den umliegenden Bergen bergab ins Zentrum zu befördern, ist ein sehr rationeller Transport notwendig, ohne dass verhältnismäßig hohe LKW-Kosten anfallen. Für den unkonventionellen Transport landwirtschaftlicher Erzeugnisse, Kleinhandwerksprodukte und lokaler Handelswaren, werden deshalb Tshukudus eingesetzt. Wir können über die Kunst, die unglaubliche Fülle an Waren auf dem nur dreißig Zentimeter breiten Ladebrett so aufzutürmen, sodass sie die Balance halten, nur staunen. Aus westlicher Ingenieursperspektive kann der Transport eigentlich nicht unfallfrei funktionieren, aber wir werden eines Besseren belehrt.
Tshukudus sind archaische Monster, die direkt aus der Höhlengarage der Familie Feuerstein zu kommen scheinen. Diese bis zwei Meter langen, überdimensionalen Tretroller wiegen über einhundert Kilo und sie beherrschen seit etwa 1970 das Transportwesen in Goma und Umgebung. Auf den unbeladenen Gefährten kniet der Fahrer mit einem Bein, stößt sich mit dem anderen Bein ab und bewegt das schwerfällige Tshukudu langsam vorwärts. Unter größerer Belastung ohne Gefälle muss es mühsam geschoben werden. Die topographischen Verhältnisse erlauben jedoch meistens ein Bergab-Rollen in die Stadt, wobei der Fahrer hinter der Ladung auf dem Längsträger steht. Gebremst wird mit einer simplen Klotzbremse am Hinterrad, die mit dem Fuß betätigt wird. Einfachste Technik, aber unglaublich innovativ und effektiv.
Es können mehrere hundert Kilo auf die grob zusammengezimmerten Lastesel geladen werden. Einschränkungen gibt es dabei keine. Säcke voller Zucker oder Zement, Bauholz, Bananenstauden, Möbelstücke, Autoreifen und schwere Elektrogeräte werden mit atemberaubender Geschwindigkeit aus den oft aus bis zu dreißig Kilometer entfernten Orten bis nach Goma transportiert. Dabei profitieren die Piloten von dem Gefälle der Berge und Hügel. Wie urzeitliche Wesen und weit ausladenden Lenkern, die wie Büffelhörner anmuten, rasen sie wagemutig die staubigen Pisten hinunter und verschaffen sich pausenlos schreiend Platz. Die Tshukudeure sehen aus wie wilde Rodeo-Reiter und man rechnet jeden Moment damit, dass sie herunterfallen. Ich komme allein beim Anblick der halsbrecherisch vorbeirasenden Roller ins Schwitzen. Wenn sie unvermittelt aus einer Staubwolke auftauchend auf einen zurasen, macht man besser einen schnellen Satz von der Straße.
Tshukudeure sind zwar wahre Meister der Fahrkunst, aber sie müssen ihr lebensgefährliches Handwerk auch perfekt beherrschen. Abbremsen kann man ein voll beladenes Tshukudu so gut wie nicht. Regelmäßige Kollisionen mit Lastwagen oder Fußgängern sind auf den schlechten Wegen unvermeidlich und gehen stets übel aus. Schwere Verletzungen und auch Todesfälle sind die dramatischen Folgen. Ungefährlicher, dafür umso kraftraubender, ist der Betrieb der Tshukudus in Goma selbst. Ohne Motor und Benzin, müssen die umweltfreundlichen Gefährte auf flachem Gelände mit schierer Muskelkraft bewegt werden. Im armen Kongo ist Arbeitskraft jedoch billig und im Überfluss vorhanden.
Das Örtchen Rutshuru, etwa fünfzig Kilometer von Goma entfernt, gilt als Zentren für die Herstellung der Tshukudus, die nur aus einheimischen Hölzern und wiederverwertbaren Teilen angefertigt werden. Für die aufgenagelten Laufflächen der Holzräder und die simple Bremse am Hinterrad werden zugeschnittene Altreifen verwendet; die Kugellager, Stahlfedern für die Steuergabel und die Achsen der Räder stammen aus verschrotteten Autos oder alten Motorrädern. Als Kniekissen auf dem Längsträger dient die Sohle einer ausgedienten Flip-Flop-Sandale. Das ist afrikanisches Recycling pur und an Nachhaltigkeit kaum zu überbieten. Es zeigt, wunderbar wie erfinderisch Menschen im Kongo sind, die allerdings auch aus der Not eine Tugend machen.
Die ökonomische Bedeutung der Tshukudus von Goma ist immens. Ein Tshukudeur kann mit seinen Transportdiensten bis zu fünfzehn Dollar täglich erzielen, was in der armen Kivu-Region einen sehr guten Verdienst darstellt. Deshalb träumt jeder wagemutige Bursche davon, einmal selbst ein Tshukudu zu besitzen, um sich und seine Familie ernähren zu können und um das Herz eines Mädchens zu erobern. Doch nur wenige können sich diesen Traum erfüllen. Je nach Größe und Qualität kostet ein Tshukudu zwischen hundert und dreihundert Dollar, völlig unerreichbar für einen ungebildeten Tagelöhner. Das hauptsächliche Kostenproblem des Tshukudu-Baus: durch fortschreitende Abholzung ist nur noch in entfernteren Urwaldgebieten das spezielle Holz für die Steuergabel zu finden, das den ungeheuren Belastungen der Fahrten auf rutschigen Schlaglochpisten Stand halten kann.
Wie sieht die Zukunft dieser handgefertigten Unikate aus? Dank ihrer Robustheit und Langlebigkeit haben sich die überaus originellen Lastenträger trotzen trotz der zunehmenden Modernität Afrikas erfolgreich in das Jetzt hinüber gerettet. Es ist aufgrund der mangelhaften Infrastruktur des Kongos auch nicht davon auszugehen, dass die Tshukudus verschwinden oder gar einer Motorisierung oder Elektrifizierung zum Opfer fallen werden. In Zeiten der Nachhaltigkeit unter Verwendung ressourcenschonender, lokal verfügbarer Materialien sind sie aktueller denn je und nur scheinbare Relikte einer längst vergangenen Zeit.
Man darf trotz aller Schwärmerei für diese obskuren Fahrzeuge nicht vergessen, dass der Ost-Kongo keine Idylle, sondern ein seit Jahrzehnten von Bürgerkriegen, humanitären Flüchtlingskrisen und Naturkatastrophen heimgesuchtes, zerrüttetes Gebiet ist. Das individuelle Reisen außerhalb von Goma ist ohne bewaffneten Begleitschutz in dem von Banditen und Rebellen kontrollierten Gebieten hochgefährlich. Selbst in der völlig verdreckten Stadt sind alle wichtigen Gebäude mit Stacheldraht umsäumt, das Militär ist omnipräsent und es herrscht nächtliche Ausgangssperre. Die Menschen kennen nur Ausbeutung und Vertreibung und begegnen Ausländern grundsätzlich mit Misstrauen. Die Kriminalitätsrate ist extrem hoch, die Stimmung bedrohlich und generelle Vorsicht ist allzeit geboten. Nur selten habe ich mich in einer Region so unwohl gefühlt, was unseren Aufenthalt mental deutlich beeinträchtigte.
Wer mehr über die Tshukudus lesen möchte, dem empfehle ich diesen tollen Bildband: www.juergenescher.de/produkt/tshukudu-transporteure-zwischen-den-welten-limitierte-edition/